Anathem: Roman
gerade richtig gewesen und hatte jetzt seine maximale Tragkraft erreicht; niemand sonst würde dort hinaufsteigen, solange der Platz im Wesentlichen von einem erregten Yulassetar Crade eingenommen wurde. Cord war leicht gekränkt; sie verweigerte jede weitere Bewegung, und so musste Yul sich auf die Knie fallen lassen und den Kopf ungefähr auf der Höhe ihrer Oberschenkel durch die Tür stecken. Es erschien planlos und übereilt und absolut nicht die richtige Art und Weise, mit theorischem Beweismaterial von so unschätzbarem Wert umzugehen. Unter anderen Umständen hätten die Avot sich um die Leitern gedrängelt und Yul zurückgehalten, niemand hätte etwas berührt, bevor nicht alles ausgemessen, phototypiert, untersucht und analysiert worden wäre. Doch die schwebenden und kreisenden Luftfahrzeuge wie auch andere Geräusche über ihnen hatten alle in einen anderen Gemütszustand versetzt. »Yul!«, rief Sammann, und sobald Yul sich umgedreht hatte, warf der Ita sein Nicknack in hohem Bogen auf das Gerüst. Yul streckte instinktiv die Hand aus, schnappte es aus der Luft und hielt es in die Kapsel. Es konnte im Dunkeln besser sehen als ein Mensch, und deshalb benutzte er
seinen Bildschirm als Nachtsichtgerät. So bemerkte er die dunklen Flecken auf der Kleidung der toten Geometerin.
»Sie ist verletzt«, meldete Yul, »sie blutet!« Manche Avot, die annahmen, er spräche von Cord, gaben Alarmschreie von sich, aber bald war klar, dass er die Geometerin in der Kapsel meinte.
»Behauptest du etwa, er, sie, lebt ?!«, fragte Sammann.
»Ich weiß es nicht!«, sagte Yul, während er sich umdrehte und zu uns herabschaute.
Solange er aus dem Weg war, schob Cord ein Bein in die Tür und beugte sich mit Kopf und Oberkörper hinein. Wir hörten einen gedämpften Ausruf. Yul gab ihn weiter: »Cord sagt, sie ist noch warm!«
Alle möglichen theorischen Fragen fielen mir ein – wie vermutlich auch allen anderen: Woher weißt du, dass es eine Frau ist? Woher weißt du, dass sie überhaupt Geschlechter haben? Was bringt dich zu der Annahme, dass sie Blut haben wie wir und dass es das ist, was aus ihr herauskommt? Aber wie zuvor verwiesen der Stress und das Durcheinander derlei Fragen in eine Art intellektuelle Quarantäne.
»Wenn es auch nur die geringste Chance gibt, dass sie noch am Leben ist, müssen wir alles tun, um ihr zu helfen!«, machte Orolo klar.
Mehr brauchte Yul nicht zu hören. Mit einer Hand warf er das Nicknack zu Sammann zurück, während er mit der anderen Cord ein Messer gab. »Sie ist ziemlich gut festgeschnallt«, warnte er uns. Alles, was wir jetzt von Cord sehen konnten, war ein Bein, das sich drehte und scharrte, während sie sich damit an dem Gerüst abstützte. Eine Minute verging. Wir standen da, wartend, unfähig, Cord zu helfen, machtlos gegenüber den pochenden, dröhnenden und metallisch kratzenden Geräuschen, die vom Tor und von den Mauern des Konzents hoch über uns herunterschallten. Schließlich hob Cord einmal kräftig an, worauf sie halb zur Tür heraustaumelte. Yul beugte sich hinein, um ein zweites Mal anzuheben. Wie ein Bootsführer, der bei einer Wildwassertour einen ertrunkenen Kunden aus dem Fluss zieht, holte er die Geometerin mit der ganzen Kraft beider Arme und Beine aus der Kapsel und landete, die Außerarbrische der Länge nach auf ihm ausgestreckt, auf dem Rücken. Rote Flüssigkeit ergoss sich über seine Rippen und tropfte durch die Sprossen auf den Boden. Zwanzig Hände streckten sich nach oben, um das Gewicht der Geometerin aufzunehmen, als Yul sie
seitlich von seinem Körper herunterrollte. Drei Hände, darunter eine von Orolo, trafen sich an ihrem Kopf, den sie schützend umfingen, damit er nicht herabbaumelte. Ich erhaschte einen Blick auf das Gesicht. Aus fünfzig Fuß Entfernung hätte jeder sie für eine Bewohnerin dieses Planeten gehalten. Von nahem betrachtet, bestand kein Zweifel, dass sie, wie Cord es formuliert hatte, »nicht von Arbre« war. An ihrem Gesicht gab es nichts, was das bestätigt hätte, aber Farbe und Beschaffenheit von Haut und Haaren, ihre Knochenstruktur, die Kontur der Ohrmuschel, die Form ihrer Zähne, das alles war einfach ganz anders.
Es kam nicht in Frage, sie auf dem von der Rakete versengten Boden abzulegen, der immer noch heiß und mit scharfkantigen Kachelscherben übersät war, sodass wir nach der nächstbesten ebenen Fläche Ausschau hielten, die vielleicht geeignet war. Wie sich herausstellte, war das die leere Ladefläche von
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