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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Gnels Hol, etwa hundert Fuß weit weg. Wir trugen die Geometerin auf den Schultern und liefen dabei so schnell, wie wir konnten, ohne sie fallen zu lassen. Suur Maltha, die Ärztin des Konzents, kam uns auf halbem Weg entgegen und befühlte schon mit den Fingerspitzen den Hals der Patientin, als wir sie noch gar nicht abgelegt hatten. Gnel hatte einen Geistesblitz und rollte gerade noch rechtzeitig eine Campingmatte aus. Den Kopf zur Heckklappe, legten wir die Frau darauf ab. Sie steckte in einem losen, hellblauen Overall, dessen Rücken von etwas triefte, was offensichtlich Blut war. Suur Maltha riss das Kleidungsstück auf und untersuchte ihren Körper mit dem Stethoskop. »Selbst wenn man den Umstand berücksichtigt, dass ich nicht sicher sagen kann, wo das Herz ist, höre ich keinen Puls. Nur ein paar sehr schwache Geräusche, die ich als Darmgeräusche identifizieren würde.«
    Wir drehten die Frau auf den Bauch. Suur Maltha schnitt den Stoff auf. Er war nicht nur mit Blut durchtränkt, sondern vielfach durchlöchert. Mit einem Lappen wischte Maltha schmieriges Blut vom Rücken ab und legte eine Anordnung von großen, runden stichartigen Wunden offen, die sich, im Wesentlichen auf der linken Seite, vom Gesäß bis halb hinauf zur Schulter zog. Alle hielten die Luft an und verstummten. Suur Maltha schaute sich die Wunden eine Weile an, während sie ihr Entsetzen zu beherrschen versuchte, und sah dann aus, als wäre sie im Begriff, irgendeine nüchterne Bemerkung zu machen.

    Doch Gnel kam ihr zuvor. »Ein Schrotschuss«, diagnostizierte er. »Schweres Kaliber – Antipersonenmunition. Mittlere Reichweite.« Und dann verkündete er, obwohl das eigentlich nicht notwendig war, das Urteil: »Irgendein Hurensohn hat diese arme Frau in den Rücken geschossen. Gott sei ihrer Seele gnädig.«
    Eine von Malthas Assistentinnen hatte die Geistesgegenwart besessen, ein Thermometer in eine Körperöffnung zu schieben, die sie unten, wo die Beine zusammenkamen, entdeckt hatte. »Körpertemperatur ähnlich wie unsere«, verkündete sie. »Sie ist höchstens ein paar Minuten tot.«
    Der Himmel fiel uns auf den Kopf. Jedenfalls schien es für kurze Zeit so. Irgendjemand hatte oben die Tragleinen des Fallschirms gekappt, worauf der auf unseren Köpfen zusammengesunken war. Ein Mordsschreck, aber harmlos. Alle verteilten sich, und ein großes Grapschen, Wuchten, Stopfen und Zerknüllen hob an. Es gab keinen zusammenhängenden Plan. Doch am Ende hatten viele Avot in der Mitte des Platzes ein gewaltiges Bündel Fallschirmstoff zusammengetrieben, das sie die Tempeltreppen hinaufschoben und -rollten, um es aus dem Weg zu schaffen. Als klar war, dass es mehr als genug solcher Fallschirmkämpfer gab, wandte ich mich in der Absicht wieder der Sonde zu, hinzugehen und die Leute dort auf den neuesten Stand zu bringen. Am liebsten wäre ich losgerannt. Es kamen jedoch gerade eine Unmenge von Soldaten in Spezialanzügen die Rampe herunter, und ich befürchtete, zu rennen könnte bei irgendjemandem den Jagdinstinkt wecken.
    Orolo und Sammann untersuchten einen Gegenstand, der in der Kapsel gewesen war – die Schachtel, die Cord auf dem Schoß der Insassin gesehen hatte. Sie bestand aus einem faserigen Material und enthielt vier durchsichtige, mit roter Flüssigkeit gefüllte Röhrchen. Blutproben, schätzten wir. Alle waren jeweils mit einem eigenen Wort in Geometerschrift und einem eigenen ikonischen Zeichen etikettiert: dem Bild eines Planeten – nicht Arbre -, aus dem Weltall betrachtet.
    Soldaten rissen sie uns aus den Händen. Sie waren jetzt überall um uns herum. Jeder trug stolz einen Patronengurt zur Schau, der mit so etwas wie übergroßen Armreifen behängt war. Immer wenn sie einen Avot vor sich hatten, rissen sie einen davon ab und schlossen ihn mithilfe einer Rasterung um den Hals ihres Gegenübers, woraufhin das Band zum Leben erwachte und mehrmals pro Sekunde
aufblitzte. Jedes Halsband hatte vorne eine andere Ziffernfolge aufgedruckt, sodass die Soldaten, wenn sie erst einmal ein Bild von einem hatten, Gesicht und Nummer wussten. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die Halsbänder Verfolgungs- und Überwachungsmöglichkeiten boten. Doch so unheimlich und entwürdigend das alles auch war, es hatte, wenigstens vorerst, keine Folgen – anscheinend wollten sie einfach nur wissen, wer sich wo aufhielt.
    Fraa Landasher machte seine Sache gut, indem er – ruhig, aber bestimmt – zu erfahren verlangte,

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