Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
sein könnte. Der Fels sah tausend Jahre älter aus als alles andere auf Ekba, und das, was meine Sicht behinderte, verhalf mir zu der gleichen emotionalen Distanz wie einem Kosmographen, der durch ein Teleskop eine Staubwolke betrachtet.
    Tredegarh war etwas weiter weg von den Großstädten des späten Praxischen Zeitalters erbaut worden als Munkoster und Baritoe. Dies und das zerklüftete Aussehen des Felsens hatten dem Konzent den Ruf verschafft, abgelegen zu sein. Die Städte, die Munkoster und Baritoe umgaben, waren seither natürlich ein Dutzend Mal untergegangen und wiederaufgebaut worden, während ähnliche Gezeiten Tredegarh umspült hatten; trotzdem stellten es sich die Menschen in der mathischen Welt beharrlich als ein von Wäldern umgebenes Refugium vor. Doch wir landeten auf einem belebten Aerodrom, das nur eine halbe Stunde zu Fuß vom Tagestor entfernt lag, und während wir dorthin fuhren, sah ich, dass das, was ich für Wälder gehalten hatte, in Wirklichkeit Arboreten und die vermeintlichen Wiesen in Wirklichkeit Rasenflächen zum Vergnügen der Säkularen waren, die in großen, alten, an den Waldrand geschmiegten Häusern wohnten.
    Das Tagestor war so hoch, dass ich gar nicht merkte, wie wir es passierten. Eine mit rotem Stein gepflasterte Straße, die so breit war, dass zwei Mobos darauf nebeneinander fahren konnten, schwenkte nach rechts und führte unter einen riesigen mathischen Gebäudekomplex, den ich zunächst für das Mynster hielt. Aber es handelte sich lediglich um das Ärztekolleg, und die rote Straße diente Patienten und Besuchern, die nicht lesen konnten, zur Orientierung. Ich wurde in einem motorisierten Karren befördert, da man den mit mir verbundenen Koffer schlecht tragen konnte. Mein Fahrer bog auf die rote Straße ein und schlug einen Bogen, um einem alten Patienten auszuweichen, der in einem mit Infusionsflaschen und Anzeigegeräten behängten Rollstuhl an der frischen Luft spazieren gefahren wurde. Wir passierten einen überwölbten Eingang und
bogen von der roten Straße in einen Betriebsflur ab. Wir summten an langen Reihen kühler Räume mit Zählern und unheimlichen Armaturen vorbei, dann eine Rampe hinauf und in einen Hof. Er hatte in etwa die Größe des Klostrums zu Hause, kam mir aber kleiner vor, weil die Gebäude drum herum höher waren. In eine Ecke dieses Hofes hatte man ein nagelneues Wohnmodul gesetzt, aus dessen Fenstern sich Röhren und Leitungen schlängelten und zu surrenden Maschinen oder durch Fenster in ein Labor führten. Man wies mich an, hineinzugehen und meinen Anzug abzulegen. Als die Tür hinter mir zuging, hörte ich, wie sie von außen abgeschlossen wurde, dann das Ratschen eines Polytape-Spenders, als die Ritzen rundum abgedichtet wurden. Ich kämpfte mich aus dem Anzug und schaltete den Koffer ab, dann stopfte ich beides unter das Bett. Das Modul bestand aus Schlafzimmer, Bad und Küche nebst Essnische. Die Fenster waren von außen mit Maschendraht verstärkt – damit ich mich nicht gewaltsam befreien konnte, falls sich herausstellte, dass ich unter Klaustrophobie litt und zu Panikattacken neigte – und mit dicker, durchsichtiger Polyfolie verklebt.
    Ziemlich öde. Doch das war seit mehreren Wochen das erste Mal, dass ich allein war, und in diesem Sinne hätte es nicht luxuriöser sein können. Ich wusste fast nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Mir war schwindelig, und ich spürte, dass ich kurz davor stand, zusammenzuklappen. Dann kam ich mir doch nicht so ungestört vor, da ich vermutlich unter Überwachung stand. Immer wieder musste ich an das Bild meines schluchzenden Gesichts denken, das ich nach Orolos Anathem – das erste Mal, dass er gestorben war – unabsichtlich in Clesthyras Auge eingefangen hatte. Irgendein Instinkt befahl mir, mich zu vergraben. Ich ging ins Bad, schaltete das Licht aus, drehte die Dusche auf und stellte mich unter das Wasser. Sobald die Temperatur konstant war, sackte ich nach hinten gegen die Wand, ließ mich daran herabsinken, bis ich über dem Abfluss kauerte, und verlor völlig die Kontrolle über mich. Vieles floss diesen Abfluss hinunter.
    Ich hatte Abenteuer erlebt, die gute Geschichten abgegeben hätten, wenn Orolo nicht vor meinen Augen verdampft wäre. Unser Luftfahrzeug war zusammen mit mehreren anderen zur nächsten gegen den Wind gelegenen Insel geflogen und hatte bei der Landung auf einem Strand eine größere Menge von Einheimischen auseinander gescheucht, die sich dort versammelt hatten, um

Weitere Kostenlose Bücher