Anathem: Roman
merkwürdig unberührt. Mit einem Schritt zur Seite gelangte er in eine Position, von der aus er durch das offene Tor ungehindert den Hang hinaufschauen und sehen konnte, was da auf ihn zustürzte. Das gab ihm, so vermute ich, ein Gefühl dafür, wie viele Sekunden ihm noch blieben. Er hob ein weggeworfenes Ausgrabungswerkzeug auf und ritzte damit einen Bogen in den lockeren Boden. Er drehte sich, immer und immer wieder, fügte einen Bogen an den anderen, bis er die anmutige, endlose Kurvenlinie des Analemmas vervollständigt
hatte. Dann warf er das Werkzeug beiseite und trat, seinem Schicksal entgegenblickend, in die Mitte.
Die Gebäude des Konzents implodierten, noch bevor die glühende Wolke sie erreichte, denn die Lawine schob eine unsichtbare Druckwelle vor sich her. Innerhalb weniger Sekunden überrollte Zerstörung den Konzent in seiner ganzen Breite und schlug von hinten an die Mauern. Die wölbten sich, bekamen Risse, verloren ein paar Steine, hielten aber noch, bis die glühende Wolke sie mit ihrer ganzen Wucht erfasste. Da sanken sie in sich zusammen wie eine Sandburg, die von einer Welle überspült wird.
»Nein!«, schrie ich noch einmal, als Orolo unter der Druckwelle verdorrte. Er flatterte zu Boden wie ein Stück Seil. Für einen Moment war er von Rauch verhüllt: Strahlungshitze, die als Vorbotin der glühenden Wolke vorausleuchtete. Unser Luftfahrzeug schaukelte und rutschte auf harter Luft seitlich weg. Die Wolke brach aus dem Tor hervor, schwang sich über die Trümmer der Mauern und ging auf Orolo nieder. Für den Bruchteil einer Sekunde war er eine flammende gelbe Blüte in dem Strom aus Licht, und dann wurde er eins mit ihm. Von dem, was er gewesen war, blieb nur ein Fetzen Dampf, der sich über der feurigen Sturzflut kringelte.
Teil 9
EMBRASE
Konvox: Große Zusammenkunft von Avot aus Mathen und Konzenten der ganzen Welt. Normalerweise nur bei der Jahrtausendapert oder nach einer Verheerung gefeiert, jedoch auch bei Vorliegen höchst außergewöhnlicher Umstände auf Ersuchen der Säkularen Macht einberufen.
DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
E in Schwall von milchigem Licht ergoss sich über die Wälder und Grünflächen und gerann zu klebrigem Dunst. Es war ein Tag ohne Morgendämmerung. Im Fenster des Luftfahrzeugs hatte sich ein millionenfach verästeltes Netz winziger Risse gebildet, die das Licht zu einem Staub aus ungewöhnlichen Farben pulverisierten. Ich sah das Ganze durch das Visier eines Schutzanzuges. Neben mir auf dem Sitz lag ein orangefarbener Koffer, der wie ein Brustkorb atmete und gurgelte und alles abtötete, was aus mir herauskam. Die Avot und Zampanos, die man aus ganz Arbre zur Konvox einberufen hatte, waren zu wichtig, um sie dem Risiko einer Infektion mit fremden Keimen auszusetzen, und so lebte ich bis auf weiteres in einer luftdichten Blase.
Das ergab keinen Sinn. Warum sollte man mich nach Tredegarh bringen, wenn irgendein Risiko bestand? Kein Dialog zwischen rational denkenden Menschen hätte zu dem Schluss führen können, mich hierherzubringen – aber nur in einem Schutzanzug. Doch wie Orolo gesagt hatte: Die Konvox war politisch motiviert und fällte Kompromissentscheidungen. Und dass ein Kompromiss zwischen zwei vollkommen rationalen Alternativen überhaupt keinen Sinn ergab, passierte andauernd.
Mein erster Blick auf den Fels erfolgte also durch mehrere Schichten getrübtes, zerkratztes und rissiges Poly sowie meilenweit reichenden Dunst: ob Rauch, Dampf oder Staub, konnte ich nicht sagen. Die Dichter, die über den Fels schrieben, schienen ihn stets im Morgengrauen oder bei Sonnenuntergang eines prächtigen Tages zu sehen und fragten sich gern, was die Tausender in ihren Türmen droben wohl so machten. Offenbar wussten sie nicht – oder übergingen taktvoll -, dass der Granitklotz darunter von Tunneln zur Lagerung von nuklearem Abfall durchlöchert war und dass die Unversehrtheit des Konzents sich nicht der Stärke seiner Mauern oder der Tapferkeit seiner Verteidiger, sondern einer Übereinkunft
zwischen der mathischen Welt und der Säkularen Macht verdankte. Ich fragte mich, wie sich wohl ein Gedicht von jemandem läse, der den Fels so sah, wie ich das in diesem Augenblick tat, und der wusste, was ich wusste. Ein schnaubendes Lachen trübte mein Visier. Doch als es wieder durchsichtig wurde und den Blick auf das imposante, dunstige, aller Farbe beraubte Bild freigab, kam ich zu dem Schluss, dass es vielleicht sogar ein starkes Gedicht
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