Anathem: Roman
auffällige Bögen hindurch flüchtige Blicke auf Kapitelhäuser, die so winzig, schäbig und von der Zeit zernarbt waren, dass sie bis auf die Rekonstitution zurückgehen mussten. Neue Türme, die durch Höhe und Pracht wettzumachen suchten, was ihre betagten Nachbarn kraft Alter, Ruhm und Würde besaßen.
»Noch etwas«, sagte Tulia, »was ich beinahe vergessen hätte. Gleich nach der Embrase wird ein Plenar stattfinden.«
»Davon hat schon Arsibalt gesprochen – Jesry hat eines mitgemacht?«
»Ja. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, aber … denk einfach dran, dass das alles Theater ist.«
»Hört sich nach einer Warnung an!«
»Immer wenn so viele in einem Raum zusammenkommen, findet kein Dialog statt, der diese Bezeichnung verdient – es ist alles gespreizt. Gefiltert.«
»Politisch?«
»Natürlich. Versuch – versuch bei denen bloß nicht, politisch zu taktieren.«
»Weil ich ein kompletter Idiot bin, was Politik …«
»Genau.«
Schweigend rannten wir ein paar Schritte weiter, und sie überlegte es sich noch einmal. »Erinnerst du dich noch an unser Gespräch, Raz? Vor Elikt?«
»Du wolltest das politische Ziel des Ganzen konkretisieren«, entsann ich mich, »damit ich mehr Stellen von pi auswendig lernen kann.«
»So ungefähr«, sagte sie und gab ein Kichern von sich, um nicht als Spielverderberin dazustehen.
»Und wie funktioniert dieser Plan?«
»Sag einfach die Wahrheit. Versuch nicht zu tricksen. Das hast du nicht drauf.«
Inzwischen bestand die Hälfte des sichtbaren Universums aus Granit. Wir rannten Stufen hinauf, deren einziger Zweck darin bestand, Stufen zu stützen, die weitere Abstufungen, Stufenfolgen und Stufensysteme unterfingen. Aber irgendwann wurde das Ganze flacher. Unmittelbar vor uns lag ein Eingang, allerdings der falsche. Von Peregrins wurde erwartet, dass sie aus der Richtung des Tagestors eintraten, weshalb wir das Mynster zu einem Viertel umrunden und den prächtigsten aller Eingänge benutzen mussten, den ich bestimmt eine halbe Stunde lang angeglotzt hätte, wenn Tulia meine Kord nicht wie eine Leine gepackt und mich hindurchgezerrt hätte. Wir rannten durch eine Art Eingangshalle und in ein Schiff, das so groß war, dass ich glaubte, wir wären wieder ins Freie gelangt. Mitten hindurch verlief ein Gang. Vor mir konnte ich das hintere Ende einer Prozession von Avot sehen, die auf den Chor zuschlurften und schon drei Viertel des Weges zurückgelegt hatten. Tulia ließ sich zurückfallen, gab mir einen Klaps auf den Hintern, den man noch oben auf dem Felsen hätte hören können, und zischte: »Folge den Burschen in den Lendenschurzen! Tu, was sie tun!« Mindestens dreißig Köpfe drehten sich zu uns um und starrten; die Bänke waren spärlich mit Säkularen besetzt.
Ich bremste auf ein flottes Gehen ab – musste wieder zu Atem kommen – und berechnete mein Tempo so, dass ich zu einem halben Dutzend »Burschen in Lendenschurzen« aufschloss, als sie gerade bei dem Schirm am oberen Ende des Gangs anlangten. Ich folgte ihnen auf die andere Seite und fand mich in einer großen, halbkreisförmigen Kammer – dem Chor – wieder, den ich mir mit einem Sortiment von Hierarchen, einem Chor, den Burschen in den Lendenschurzen und mehreren anderen Gruppen von Avot teilte.
Die Embrase war ein weiterer unserer mathischen Auts. Ein förmliches Programm, aufgehängt an mehreren Momenten, in denen kodierte Bewegungen vollzogen, alte Worte ausgerufen oder symbolische Gegenstände auf bestimmte Weise gehandhabt wurden, und durchzogen von festlicher Musik und Reden purpurgewandeter Hierarchen. Ein Säkularer hätte das Ganze als lächerlichen Mummenschanz, wenn nicht gar als Hexerei betrachtet. Ich versuchte, in den entsprechenden Gemütszustand zurückzufinden
und es so zu sehen, wie es von einem Avot erwartet wurde. Das war ja schließlich der Sinn der Embrase: Peregrins wieder zur mathischen Geisteshaltung zu verhelfen. Damit die Zeremonie diesen Zweck erfüllte, war sie prächtiger und eindrucksvoller als tägliche Auts wie etwa die Provene. Vielleicht war das aber auch nur der Stil, in dem man in Tredegarh alles machte. Die Hierarchen hier wussten wirklich, wie man eine Vorstellung inszenierte – das Publikum so packte, wie es große Schauspieler auf dem Theater taten. Ihre Gewänder waren wirklich großartig, und sie waren in einschüchternder Zahl vertreten; den Primas flankierten nicht nur seine beiden Warte, sondern Echelons anderer Hierarchen, und zwar keine
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