Anathem: Roman
niederrangigen, sondern Leute, die ihrerseits Gefolge hatten und so aussahen, als könnten sie selbst Primas sein. Was ich hier vor mir hatte, so wurde mir klar, war so etwas wie ein Konzil von Primassen, die man alle aus ihren Konzenten evoziert hatte, vermutlich damit sie die Konvox leiten konnten. Oder zumindest deren mathische Seite. Irgendwo auf der anderen Seite einer Zwischenwand musste es ein Kabinett von Zampanos geben, die in der säkularen Welt ebenso wichtig waren wie diese Hierarchen in der mathischen.
Ich kam mir vor wie ein mit Krätze behafteter Bettler und hielt es für einen ausgesprochenen Glücksfall, dass ich neben einem Orden von Avot stand, die nur Taschentücher trugen. Als ich sie jedoch näher betrachtete, sah ich, dass es sich bei den Taschentüchern in Wirklichkeit um Kullen handelte, die fast bis zur völligen Auflösung verschlissen waren. Die losen Fasern, die an ihren ausfransenden Enden baumelten, hatten sich zu seilartigen Strängen verheddert, mit denen sich diese Männer (es waren allesamt Männer) die spärlichen Stofffetzen um den Leib gebunden hatten. In Edhar war es Tradition, ein Ende der Kulle ausfransen zu lassen. Doch auch die betagtesten Angehörigen unseres Ordens wurden, wenn sie dem Alter erlagen, in Kullen begraben, deren Fransen allenfalls ein paar Zoll lang waren. In diesem Orden, so schien es, wurden Kullen von älteren Avot an jüngere weitergegeben. Einige davon mussten Tausende von Jahren alt sein. Einer dieser seltsamen, halbnackten Fraas hatte einen Schmerbauch, die anderen waren hager. Sie gehörten einer Rasse an, die in der Regel in Äquatornähe lebte. Ihre Haare waren wirr, nicht aber so wirr wie ihre Augen, die, scheinbar ohne irgendetwas wahrzunehmen, in den Raum über dem Chorboden
starrten. Ich hatte den Eindruck, dass sie es nicht gewöhnt waren, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten.
Die anderen sechs Kontingente trugen kompliziert geschlungene Kullen normaler Größe. Das war aber auch schon alles, was sie miteinander gemein hatten. Jede Gruppe war mit einem komplett anderen System von Turbanen, Hüten, Kapuzen, Schuhwerk, Unterkullen, Oberkullen und sogar Schmuck ausgestattet. Wir in Edhar gehörten eindeutig dem genügsamen Teil des Spektrums an. Vielleicht waren nur noch die Klingenthaler und die Burschen in den Lendenschurzen asketischer als wir.
Nachdem wir die Anfangsrunden des Gepränges hinter uns gebracht hatten, trat der Primas vor, um einige Worte zu sagen. In den dunklen Schiffen hinter den Schirmen konnte man Leute seufzen und sich zurechtsetzen hören. Ich riskierte es, an mir herunterzublicken, und sah schmutzige, nackte Füße, eine Kulle von stumpfer Farbe, auf die denkbar primitivste Weise geschlungen (Modell »Gerade erst aufgestanden«), Narben, die noch rot waren, und gelbgrün verblasste Prellungen. Ich war der Vorzeige-Efferat.
Eine der anderen Embrase-Gruppen – die zahlenmäßig stärkste und am aufwändigsten gekleidete – trat vor und sang ein Stück. Sie verfügte über genügend versierte Sänger, um eine sechsstimmige Polyphonie zu meistern, ohne dass man den Sängern die Anstrengung anmerkte. Was für eine schöne Geste, dachte ich. Dann legte die Gruppe neben ihnen einen monophonen Gesang hin, der Modi und Tonarten verwendete, die ich noch nie gehört hatte. Ich sah, wie die nächste Gruppe Spickzettel aus ihren Kullen nestelte. Da endlich dämmerte es mir, und ich bekam ein Gefühl, wie man es nur in einem besonders grausamen Alptraum bekommt: Ich saß rettungslos in der Falle. Jede Gruppe musste etwas singen! Ich war eine Gruppe – eine Einmanngruppe! Dümmlich mit den Händen zu wedeln und um Nachsicht zu bitten würde mir nichts nützen. Niemand auf der Konvox würde das niedlich finden; niemand würde es komisch finden.
So schlimm würde es schon nicht werden, sagte ich mir. Die Erwartungen würden niedrig sein. Ich war ein halbwegs brauchbarer Sänger. Wenn mir jemand ein Notenblatt vor die Nase gehalten und »Los!« gesagt hätte, hätte ich improvisieren – das Ding vom Blatt singen – können. Schwierig war die Entscheidung, was ich singen sollte. Die anderen Gruppen hatten das offenbar schon vor Wochen
geklärt – Stücke ausgesucht, die etwas darüber aussagten, wer sie waren, worüber sie in ihren Konzenten nachdachten und welche musikalischen Traditionen sie entwickelt hatten, um die Ideen zu verherrlichen, die ihnen am kostbarsten waren. Das musikalische Erbe des Konzents von Saunt Edhar
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