Anathem: Roman
diesen nichtswürdigen Gedanken.
Lodoghir fuhr fort: »Ihr müsst wissen, dass ich mich eingehend mit Paphlagons vorhin geäußertem Argument auseinandergesetzt habe, demzufolge wir das Bewusstsein als Laboratorium zur Beobachtung des so genannten Hyläischen Flusses benutzen sollten. Aber ist das wirklich der Weisheit letzter Schluss? Das ist doch nichts weiter als ein Wiederkäuen der evenedrikischen Datonomie in ihrer primitivsten Form!«
»Ich habe zwei Jahre in Baritoe damit verbracht, eine Abhandlung über die evenedrikische Datonomie zu schreiben«, bemerkte Ignetha Foral und klang dabei eher amüsiert als verärgert.
Ich verließ den Raum, was mir politisch klüger erschien, als laut loszulachen. In die Küche zurückgekehrt, goss ich mir etwas zu trinken ein und stützte mich auf einer Arbeitsplatte ab, um meine müden Füße zu entlasten.
»Alles in Ordnung?«, fragte Karvall. Sie und ich waren die einzigen Servitoren im Raum.
»Bloß müde – das hat mich ganz schön geschlaucht.«
»Also, ich fand, du hast richtig gut geredet – wenn dir das was bedeutet.«
»Danke«, sagte ich, »es bedeutet mir sehr viel.«
»Grandsuur Moyra sagt, wir seien jetzt auf dem richtigen Weg.«
»Wie bitte?«
»Sie glaubt, das Messale steht kurz davor, neue Ideen zu produzieren, anstatt immer nur über alte zu reden.«
»Wenn eine so hervorragende Loritin das sagt, kann man sich was darauf einbilden!«
»Das liegt alles nur an dem PAQD, sagt sie. Wenn die nicht gekommen und neue Gegebenheiten gebracht hätten, wäre das vielleicht nie passiert.«
»Tja, mein Freund Jesry wird sich freuen, das zu hören«, sagte ich. »Das hat er sein Leben lang gewollt.«
»Was hast du denn dein Leben lang gewollt?«, fragte Karvall.
»Ich? Ich weiß nicht. Dass ich so klug bin wie Jesry, vermutlich.«
»Heute Abend warst du so klug, wie man nur sein kann«, sagte sie.
»Danke!«, sagte ich. »Wenn das stimmt, dann nur wegen Orolo.«
»Und weil du tapfer warst.«
»Manche würden es dumm nennen.«
Wenn ich beim Frühstück nicht das Gespräch mit Ala gehabt hätte, hätte ich mich ungefähr zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich in Karvall verliebt. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass Karvall nicht in mich verliebt war – sondern bloß Tatsachen feststellte, so wie sie sie sah. Hier zu stehen und Komplimente von einer attraktiven jungen Frau entgegenzunehmen war zwar ganz schön, reichte als Erfahrung aber bei Weitem nicht an das elektrisierende Knistern heran, das ich schon bei kurzen Interaktionen mit Ala verspürte.
Ich hätte sie umgekehrt mit Komplimenten überhäufen müssen, aber ich war in diesem Moment nicht tapfer. Die Loriten besaßen eine Art von Würde, die einen einschüchterte. Mit ihrem kunstvollen Stil – dem Rasieren des Schädels, dem stundenlangen Knotenschlingen, nur um sich anzuziehen – erwiesen sie, wie ich wusste, den Vorangegangenen Respekt und erinnerten sich selbst tagtäglich daran, wie viel Arbeit man leisten musste, um auf den neuesten Stand zu kommen und in der Lage zu sein, neue Ideen von alten zu trennen. Aber dass ich über diese Symbolik Bescheid wusste, machte Karvall nicht zugänglicher.
Wir wurden von Zh’vaerns seltsam modulierter Stimme im Lautsprecher abgelenkt: »Weil wir Matarrhiten gern für uns bleiben, hat vielleicht nicht einmal Suur Moyra von dem Mann gehört, den wir als Saunt Atamant verehren.«
»Der Name sagt mir nichts«, bekannte Moyra.
»Für uns ist er der begabteste und penibelste Introspektionist, der je gelebt hat.«
»Introspektionist? Ist das in eurem Orden so etwas wie eine Tätigkeitsbeschreibung?«, fragte Lodoghir nicht unfreundlich.
»Das könnte es durchaus sein«, gab Zh’vaern zurück. »Er hat die letzten dreißig Jahre seines Lebens darauf verwendet, eine Kupferschale zu betrachten.«
»Was war so besonders an dieser Kupferschale?«, fragte Ignetha Foral.
»Gar nichts. Aber er hat zehn Abhandlungen geschrieben oder vielmehr diktiert, in denen er erklärt hat, was bei der Betrachtung alles in seinem Kopf vorging. Vieles davon klingt ganz ähnlich wie Orolos Überlegungen zum Kontrafaktischen: dass etwa sein Verstand die unsichtbare äußere Oberfläche der Schale mit Annahmen darüber ergänzt hat, wie sie wohl aussehen müsse. Aus solchen Gedanken entwickelte er eine Metatheorik des Kontrafaktischen und der Kompossibilität, die, um es kurz zu machen, vollständig mit allem vereinbar ist, was bei unserem ersten Messale über den Hemnraum
Weitere Kostenlose Bücher