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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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und die Weltspuren gesagt wurde. Er hat die Behauptung aufgestellt, dass alle möglichen Welten wirklich existierten und in jeder Hinsicht so wirklich seien wie die unsere. Das führte dazu, dass viele ihn als Wahnsinnigen abtaten.«
    »Aber es ist genau das, was die polykosmische Interpretation postuliert«, sagte Suur Asquin.
    »Ganz recht.«
    »Was ist mit unserer Diskussion am zweiten Abend? Hat Saunt Atamant dazu auch etwas zu sagen?«
    »Darüber habe ich sehr eingehend nachgedacht. Neun seiner zehn Abhandlungen, müsst ihr wissen, handeln größtenteils vom Raum. Nur eine handelt von der Zeit, aber sie gilt als schwierigere Lektüre als die anderen neun zusammengenommen! Wenn es jedoch eine Anwendbarkeit seiner Arbeit auf den Hyläischen Fluss gibt, dann ist sie in der Zehnten Abhandlung verborgen. Ich habe sie gestern Nacht wieder gelesen; das war mein Lukub.«
    »Und was hat Atamants Kupferschale ihm über die Zeit verraten?«, fragte Lodoghir.
    »Zunächst sollte ich euch sagen, dass er sich in Theorik auskannte. Er wusste, dass die Gesetze der Theorik zeitlich umkehrbar sind und dass man die Richtung des Zeitpfeils nur dadurch bestimmen kann, dass man den Grad der Unordnung in einem System misst. Dem Kosmos scheint Zeit gleichgültig zu sein. Nur für uns
spielt sie eine Rolle. Bewusstsein konstituiert Zeit. Wir bauen die Zeit aus Augenblickseindrücken auf, die in jedem Moment über unsere Sinnesorgane einströmen. Dann treten sie in die Vergangenheit zurück. Was ist das, was wir Vergangenheit nennen? Es ist ein in unserem Nervensystem kodiertes System von Aufzeichnungen – Aufzeichnungen, die eine konsistente Geschichte erzählen.«
    »Von diesen Aufzeichnungen haben wir schon gehört«, sagte Ignetha Foral. »Sie sind wesentlich für das Bild vom Hemnraum.«
    »Ja, Frau Ministerin, aber jetzt möchte ich etwas Neues hinzufügen. Es ist recht gut in dem Gedankenexperiment mit den Fliegen, Fledermäusen und Würmern zusammengefasst. Wir trauen unserem Bewusstsein nicht genug zu, was seine Fähigkeit angeht, geräuschvolle, zweideutige und widersprüchliche Gegebenheiten über die Sinne aufzunehmen und das Ganze dann einzuordnen, zu sagen: ›Dieses Muster von Gegebenheiten entspricht der Kupferschale, die jetzt vor mir steht und vor einem Augenblick vor mir gestanden hat‹, also dem, was wir wahrnehmen, Diesheit zu verleihen. Ich weiß, ihr fühlt euch mit religiöser Terminologie vielleicht nicht wohl, aber es kommt einem wie ein Wunder vor, dass unser Bewusstsein das kann.«
    »Vom evolutionären Standpunkt her ist es allerdings absolut notwendig«, warf Lodoghir ein.
    »Ganz gewiss! Aber nichtsdestoweniger bemerkenswert. Die Fähigkeit unseres Bewusstseins, Kupferschüsseln, Melodien, Gesichter, Schönheit, Ideen zu sehen - und zwar nicht nur so, wie ein Spulocorder etwas sieht (indem er Gegebenheiten aufnimmt), sondern Dinge zu identifizieren – und diese Dinge der Erkenntnis zugänglich zu machen – diese Fähigkeit, sagt Atamant, ist letztlich die Grundlage alles rationalen Denkens. Und wenn das Bewusstsein die Kupferschalenhaftigkeit identifizieren kann, warum dann nicht auch die Gleichschenkliges-Dreieck-Haftigkeit oder die Adrakhonischer-Lehrsatz-Haftigkeit?«
    »Was du beschreibst, ist nichts anderes als Erkennung von Mustern, denen dann Namen zugewiesen werden«, sagte Lodoghir.
    »So würden die Syntaktiker sagen«, erwiderte Zh’vaern. »Aber ich würde sagen, ihr zäumt das Pferd vom Schwanz auf. Ihr Prokier habt eine Theorie – ein Modell – davon, was Bewusstsein ist, und dem unterwerft ihr alles andere. Eure Theorie wird zur Grundlage aller möglichen Behauptungen, und die Bewusstseinsprozesse werden
als bloße Erscheinungen gesehen, die nach dieser Theorie erklärt werden. Atamant sagt, ihr seid dem Irrtum des Zirkelschlusses verfallen. Ihr könnt eure grundlegende Theorie des Bewusstseins nicht entwickeln, ohne euch der Fähigkeit des Bewusstseins zu bedienen, Gegebenheiten herauszugreifen und ihnen Diesheit zu verleihen, und deshalb ist es unstimmig und zirkulär, wenn ihr diese Theorie dann dazu verwendet, die grundlegende Funktionsweise des Bewusstseins zu erklären.«
    »Ich verstehe Atamants Argument«, sagte Lodoghir, »aber verabschiedet er sich mit einem solchen Schritt nicht aus dem rationalen theorischen Diskurs? Diese Fähigkeit des Bewusstseins nimmt einen geradezu mystischen Rang ein – sie kann nicht infrage gestellt oder untersucht werden, es gibt sie

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