Anathem: Roman
»Lio und Raz, wärt ihr so freundlich, eurem Fraa ein wenig Privatsphäre zu schaffen?«
Lio und ich hoben Arsibalts Kulle auf, wo er sie hatte liegen lassen, und hielten sie, zwischen uns gespannt, hoch, wodurch ein Schirm entstand, hinter dem Arsibalt seinen Overall ablegte. Unterdessen holte Jesry einen extragroßen Raumanzug und karrte ihn heran. Er war an einer Rollvorrichtung aufgehängt, die Jesry als Anziehgestell bezeichnete. Der Anzug bestand aus einem großen, starren Konstrukt, der so genannten Kopf- und Torsoeinheit oder, unvermeidlich, KTE, deren Rückenteil sich wie eine Kühlschranktür öffnen ließ. Jeder Ärmel und jedes Bein bestand aus mehreren kurzen, starren, wulstigen Elementen, die aufeinandersaßen wie Perlen auf einer Schnur. Das verlieh dem Anzug ein anderes Aussehen, als ich es von Raumanzügen in Spulos und von dem des Himmelswarts in Erinnerung hatte: Dieser hier war voluminöser, rundlicher, beruhigend solide. Ein anderer großer Unterschied, zumindest in kosmetischer Hinsicht, bestand darin, dass dieser Anzug – wie alle anderen, mit denen sich Jesry beschäftigt hatte – mattschwarz war.
Arsibalt trat auf das Anziehgestell zu, hob die Hände, um eine strategisch platzierte Klimmzugstange zu packen, und hievte sich ziehend und kletternd auf eine Trittstufe an der Schwelle zur Hintertür des Anzugs. Er war erstaunlich willig. Vielleicht erinnerte er sich an SF-Spulos, die er gesehen hatte, bevor er zugelassen worden war, vielleicht war er aber auch einfach nicht gern nackt. Mit einiger Hilfe von Jesry führte er zunächst eine, dann die andere Fußspitze in die Beinlöcher an der Basis der KTE ein und ließ sich dann in sie hinab. Während seine Füße sich senkten, rotierten die starren Segmente in unterschiedliche Richtungen. Wie es schien, war jeder
Wulst durch ein luftdichtes Lager mit seinen Nachbarn verbunden. Alle waren unabhängig voneinander drehbar, sodass man Ellbogen und Knie normal beugen konnte, ohne dazu einen komplizierten Gelenkmechanismus zu brauchen. Arsibalt sah nun noch mopsiger aus als sonst. Er beugte ein Bein, dann das andere, damit wir erkennen konnten, wie die Segmente, indem sie gegeneinanderrotierten, Bewegung ermöglichten.
»Ich möchte euch auf die Beutel hinweisen, die eure Oberschenkel und eure Taille umschließen«, sagte Jesry und deutete auf irgendein gummiartig aussehendes Zeug, das schlaff an den Innenwänden der KTE herabhing. »In wenigen Minuten werden sie euer Weltbild erschüttern.«
»Zur Kenntnis genommen«, sagte Arsibalt und schob zuerst eine, dann die andere Hand in die Ärmelkonstrukte, die in stumpfen, halbkugelförmigen Wölbungen – handlosen Stümpfen – zu enden schienen. Nun konnten wir nur noch seinen Rücken und seinen Hintern sehen. Jesry tat uns allen den Gefallen, die Tür davor zuzuschlagen.
Nun, da unser Fraa wieder salonfähig war, ließen Lio und ich die Kulle fallen und wanderten um Arsibalt herum zur Vorderseite. Wir konnten seine gedämpfte Stimme kaum hören. Jesry steckte ein Kabel in eine Buchse auf der Brust und schaltete einen Verstärker ein. Wir hörten Arsibalt über einen Lautsprecher: »Für meine Hände gibt’s da unten viel zu erfahren – ich wünschte, ich könnte sehen, was ich da mache.«
»Dazu kommen wir gleich«, versprach Jesry. Seine Stimme klang zerstreut, denn er war damit beschäftigt, eine Phalanx von Anzeigen auf der Vorderseite des Anzugs zu überprüfen – vermutlich vergewisserte er sich, dass sein Fraa da drin nicht erstickte. Mir fiel auf, dass andere mit amüsiertem Gesicht auf Arsibalts Vorderseite starrten, und als ich mich zu ihnen gesellte, stellte ich fest, dass mitten auf seiner Brust ein kleiner Spulo-Flachbildschirm saß. Er zeigte ein Livebild von Arsibalts Gesicht, aufgenommen von einem Spulocorder in seinem Helm. Es war ziemlich verzerrt, weil es aus nächster Nähe durch ein Fischauge gefilmt wurde, aber so hatten wir wenigstens etwas anderes zum Anschauen als das undurchsichtige Rauchglasvisier. »Was, bitte schön, hat es mit den ganzen Düsen vor meinem Mund auf sich?«, fragte Arsibalt und ließ den gesenkten Blick darüberwandern.
»Links Wasser. Rechts Essen und, so weit genehmigt, Pharmazeutika. Die große in der Mitte ist das Speigatt.«
»Das was?«
»Da kotzt du hinein. Sieh zu, dass du triffst.«
»Aha.« Arsibalt hob den Blick und schaute durch das Visier auf die Stelle, wo seine Hände hätten sein müssen. Er hob einen Arm, bis dessen Stumpf so
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