Anathem: Roman
Fraa Jad. Wir trafen ihn mitten im Dekagon sitzend an, wo er etwas aß, was ihm jemand vom Personal gebracht hatte. Das Dekagon sah völlig anders aus. Als wir gestern durchgekommen waren, war es aus handgroßen Tonkacheln zusammengefügt gewesen, dunkelbraun und mit einer Rille versehen, genau wie die, mit denen ich in Orithena gespielt hatte, nur entsprechend kleiner. Die Rille war anscheinend ununterbrochen von einem Scheitelpunkt zum gegenüberliegenden verlaufen – ich hatte mir nicht die Zeit genommen, das zu überprüfen, sondern war davon ausgegangen, dass es sich um eine korrekte Lösung handelte. Für diejenigen, die sich daran versuchen wollten, hatten überall an den Rändern Körbe voller weißer Porzellankacheln mit schwarzen glasierten Linien anstelle von Rillen gestanden. An diesem Morgen allerdings waren die Körbe leer, und Fraa Jad ließ sich sein Frühstück auf einem nahtlos weißen, mit einer gewundenen schwarzen Linie gezierten Hof schmecken. Er hatte das Ganze während der Nacht gelegt. Als wir das verstanden, brachen wir in Beifall aus. Arsibalt und Jesry johlten wie auf dem Sportplatz. Die Thaler traten auf Fraa Jad zu und verneigten sich tief vor ihm.
Aus Neugier verfolgte ich die Linie bis an den Rand des Dekagons zurück und trat dann davon hinunter – denn seine Oberfläche lag mehrere Zoll höher als das daran angrenzende Pflaster. Ich hockte mich hin und hob eine von Jads weißen Kacheln an, unter der ein kleines Stück braune Kachelung zum Vorschein kam. Jad hatte, wie nicht anders zu erwarten, eine ganz andere Lösung des
Teglons gefunden – die Lage der älteren braunen Kacheln stimmte nicht mit derjenigen der neuen überein, womit bewiesen war, dass Fraa Jad nicht einfach die alte Lösung kopiert hatte.
»Es ist die vierte«, sagte eine sanfte Stimme. Im Aufblicken sah ich Magnath Foral, der mir zusah. Mit einer Kopfbewegung wies er auf die Kachel in meiner Hand. Als ich mir den Rand des Dekagons genauer anschaute, bemerkte ich, dass sich unter den braunen Kacheln eine Schicht grüner und unter dieser eine terrakottafarbene befand.
»Tja«, sagte ich, »ihr werdet wohl einen neuen Satz Kacheln brennen müssen.«
Foral nickte und sagte trocken: »Ich glaube nicht, dass das sehr eilt.«
Ich legte die weiße Kachel an ihren Platz zurück, stand auf und machte einen Schritt auf das Dekagon. Es lag unter freiem Himmel. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte geradewegs nach oben. »Meinst du, sie haben es bemerkt?«, fragte ich. Magnath Foral bekam einen nachdenklichen Blick und sagte nichts.
Zelle 317 verfügte sich in einen Hof, den wir am Vortag nicht besucht hatten. Er war kreisförmig und mit einem lebendigen Laubengewölbe überdacht. Irgendwie hatten sie ein halbes Dutzend riesiger blühender Ranken so auf Spalier gezogen, dass sie sich in fünfzig Fuß Höhe über den Platz bogen, ineinander verhakten und eine stabile Kuppel aus miteinander verflochtenen Zweigen bildeten. Stellenweise kam Licht durch und sprenkelte den kühlen Raum darunter, doch von oben musste es aussehen wie eine durchgehend grüne, mit Farbe getüpfelte Halbkugel. Am Rand des Hofes hatte man Paletten mit geheimnisvollem, aber teuer aussehendem Material abgestellt. Den Rest des Vormittags verbrachten wir damit, auszupacken, Verpackungsmaterial loszuwerden und eine Bestandsliste anzufertigen: stumpfsinnige Arbeit, die wir alle dringend brauchten.
Dass wir in den Raum fliegen würden, ging aus der Beschaffenheit des Materials hervor. Gewichtsmäßig bestand es zu neunundneunzig Prozent aus Behältern. In schönen, zwanzig Pfund schweren Spinden fanden wir Ausrüstungsgegenstände, die so viel wogen wie getrocknete Blumen. Wir legten Kulle und Kord ab und zogen stattdessen einen nahezu gewichtslosen, kohlegrauen Overall an. »Es ist nur zum Guten«, sagte Jesry, der mich beäugte. »In der
Schwerelosigkeit fällt die Kulle nicht, wenn du verstehst, was ich meine. Das würde ziemlich schnell unschön werden.«
»Bei dir vielleicht«, sagte ich. »Muss ich sonst noch was wissen?«
»Wenn einem übel wird – und das passiert garantiert -, dauert das drei Tage. Danach geht es einem besser, oder man gewöhnt sich dran. Eins von beiden.«
»Glaubst du, uns bleiben überhaupt drei Tage?«
»Wenn sie uns bloß als Ablenkungsmanöver hochschicken würden …«
»Bloß als Kanonenfutter, meinst du?«
»Ja – dann könnten sie einfach Prokier nehmen.«
Unser Gespräch bezog mittlerweile auch andere,
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