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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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der Daban Urnud synchronisieren würde.
    Eine halbe Stunde später stemmten wir alle die Füße gegen die Unterseite des Spiegels und stießen ihn auf ein Zeichen von Lio hin weg – oder sprangen davon ab, je nachdem, welchen Referenzrahmen man zugrunde legt. Der Spiegel glitt aus dem Weg und gewährte uns unseren ersten direkten Blick auf die Daban Urnud. Sie war uns mittlerweile so nahe, dass wir kaum etwas sehen konnten: lediglich eine einzige dreieckige Facette des Ikosaeders, die fast unser gesamtes Blickfeld ausfüllte.
    Sämtliche Überwachungs- und Fernerfassungssysteme der Geometer waren im Wesentlichen darauf ausgelegt worden, Dinge zu betrachten, die Tausende von Meilen weit weg waren. Wie Jesry und die anderen erfahren hatten, als sie den Himmelswart hergebracht hatten, besaß die Daban Urnud zwar Nahbereichsradaranlagen zur Beleuchtung von Dingen, die ihr nahe waren, aber es bestand kein Grund, diese eingeschaltet zu lassen, sofern man keine Besucher erwartete. Und wir waren erst hinter dem Kalten Schwarzen Spiegel aufgetaucht, als wir uns so weit genähert hatten, dass auch diese
Radaranlagen uns nicht mehr deutlich erfassten. Zum Teil war das Glück. Wäre unsere Flugbahn etwas weniger präzise gewesen, hätten wir den Spiegel weiter draußen abstoßen müssen und uns so der Beobachtung durch diese Systeme ausgesetzt. Aber Fraa Jad hatte sein Messer genau im richtigen Augenblick geschwungen. Selbst wenn er für den Rest der Mission nichts anderes mehr täte, hätte er sich dadurch seinen Platz verdient.
    Um uns sehen zu können, würden sie uns buchstäblich sehen müssen. Jemand würde aus einem Fenster oder (wahrscheinlicher) auf einen Spulocorder schauen und zufällig elf mattschwarze Humanoiden bemerken müssen, die vor dem Hintergrund des Raums heranglitten.
    Die Oberfläche des Schiffs glich einem Kieselstrand: flach, zusammengefügt aus unzähligen Stücken von Asteroiden, die man in vier verschiedenen Kosmen aufgelesen hatte. Zwischen den Steinen schimmerte Licht: der Maschendraht, der sie zusammenhielt. Es schien, als würden wir mit einem Stoßdämpfer kollidieren, der wie ein Horizont quer über unseren Weg ragte. Aber wir verfehlten ihn um einige Ellen und sahen uns »über« einer neuen Fläche des Ikosaeders dahingleiten, die derzeit im Schatten lag. Jeder von uns trug eine Abschussvorrichtung mit Federmechanismus, und auf ein Zeichen von Lio hin schossen elf Greifhaken, die Leinen hinter sich herzogen, auf den Geröllschild zu. Meiner Schätzung nach blieb die Hälfte davon in dem Maschendraht hängen, der die Steine zusammenhielt. Eine nach der anderen strafften sich die Enterleinen und begannen Zug auf diejenigen auszuüben, die sie abgeschossen hatten. Das führte dazu, dass sich das Seil, das uns miteinander verband, in einer komplexen und unvorhersagbaren Ereignisfolge spannte, weshalb es einige Momente lang zu Zusammenstößen und unfreiwilligen Verwickelungen kam, während die ganze Zelle ans Ende dieses improvisierten Halteseilnetzes gelangte. Der Schwung, den wir hatten, führte dazu, dass wir vorwärts- und auf das Geröll hinabschwangen, eine beängstigende Entwicklung, die von den vier Thalern etwas abgemildert wurde: Sie waren mit Kaltgas-Düsensystemen ausgestattet, die sie wie Pistolen hielten und in die Richtung abfeuerten, die wir nicht nehmen wollten. Dies hatte weitere Kollisionen und Verwickelungen zur Folge, die ans Lächerliche grenzten, unterm Strich aber dazu führten, dass wir etwas abgebremst wurden. Im Näherkommen versuchten wir, Arme und/oder
Beine nach vorne zu bringen, damit sie als Stoßdämpfer dienten. Ich konnte meinen rechten Fuß auf einen Felsbrocken stellen. Der Aufprall drehte mich herum. Mit dem Stumpf meines Anzugärmels traf ich einen weiteren, viereinhalb Milliarden alten Steinbrocken und konnte es so gerade noch vermeiden, mit dem Gesicht dagegenzuknallen. Dann ruckten diverse Seile von verschiedenen Vektoren an mir und zerrten mich ein kurzes Stück dahin. Aber bald hörte das Gehüpfe und Gezerre auf, alle schafften es, mit den Fingern den Maschendraht zu packen, und verschafften Zelle 317 auf diese Weise sicheren Halt an der Daban Urnud.
    Requiem: Der Aut, der anlässlich des Todes eines Avot begangen wird.
    DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
    Die Dunkelheit war fast vollkommen. Arbre lag auf der anderen Seite des Schiffes und warf kein Licht hierher. Allerdings ging hinter dem überladenen Horizont des nächstgelegenen Stoßdämpfers

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