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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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der Neumond auf, in dessen schwachem Licht wir uns voneinander losschnitten und uns orientierten. Unsere magnetischen Stiefelsohlen hafteten schwach an dem Ikosaeder, einem Geröll aus Nickel und Eisen. Sammann, der sich wie ein Mann mit Kaugummi an den Schuhsohlen bewegte, machte die Runde und überprüfte unsere Verbindung mit dem Seil/Kabel.
    »Diese Facette wird noch zwanzig Minuten im Dunkeln liegen«, unterrichtete uns Jesry, »danach müssen wir uns zu der da weiterbewegen.« Ich konnte ihn zwar nicht sehen, nahm aber an, dass er auf einen der drei Stoßdämpfer zeigte, die unseren lokalen Horizont bildeten. Während die Daban Urnud um Arbre kreiste, schob sich der Terminator – die Grenze zwischen der sonnenerleuchteten und der im Schatten liegenden Hälfte des Ikosaeders – um sie herum. Auf jeder Facette würden Sonnenaufgang und Sonnenuntergang mit schlagartiger Plötzlichkeit eintreten. Wenn das geschah, ließen wir uns besser nicht auf freier Fläche erwischen, denn die zitadellenartigen Komplexe, die über den zwölf Vertices aufragten, boten eine unverstellte Sicht auf die umliegenden Facetten.

    »Meiner Ausrüstung zufolge«, verkündete Fraa Gratho, »sind wir nicht von irgendeinem Nahbereichsradar erfasst worden.«
    »Sie haben es einfach nicht eingeschaltet«, sagte Lio. »Aber früher oder später werden sie wahrscheinlich die Mannjifieks, die Fraa Jad losgeschnitten hat, oder den Kalten Schwarzen Spiegel bemerken, und dann werden sie auf eine höhere Alarmstufe gehen. Also, wo geht es zum Weltenverbrenner?«
    »Folgt mir«, sagte Fraa Osa und ging los, wenn denn gehen das richtige Wort für eine derart unbeholfene Form der Fortbewegung war. Ich würde gern sagen, wir bewegten uns wie Betrunkene, aber das wäre eine Beleidigung für jeden angeheiterten Fraa, der je im Dunkeln zu seiner Zelle zurückgewankt war. Ein Großteil unserer zwanzig Minuten Dunkelheit ging für die ersten paar hundert Fuß drauf. Danach jedoch lernten wir wenn schon nicht, was wir tun mussten, so doch wenigstens, was wir nicht tun durften, und erreichten den nächsten Horizont einige Minuten vor Ende der Dunkelheit.
    Der Stoßdämpfer glich einer halb im Geröll vergrabenen Pipeline, war jedoch mit flossenartigen Versteifungen verstärkt, um zu verhindern, dass er unter Belastung wie ein Strohhalm abknickte. An den Enden, die in beiden Richtungen etwa eine Meile entfernt lagen, verdickte er sich wie ein Knochen und entwickelte sich zu einem schweren Stahlgelenk. Fünf solcher aus verschiedenen Richtungen zusammenlaufender Gelenke bildeten die Basis jedes Vertex. Jeder Vertex war anders, im Allgemeinen aber bestanden sie aus einem Durcheinander von Kuppeln, Zylindern, Gitterwerk und Antennen. An ihrer »Oberseite« blühten extravagante Sträuße aus silbernen Parabolhörnern, die sich zur gegebenen Zeit in unsere Sonne drehten, um uns etwas von unserem Licht zu stehlen.
    Das dreieckige Geröllfeld, über das wir marschiert waren, stieß nicht direkt an die Stoßdämpferstange, weil das System etwas Spiel haben musste; ein Stoßdämpfer, der auf ganzer Länge fest mit einer steifen Dreiecksplatte verschweißt wäre, würde nicht funktionieren. Stattdessen endete die Facette zehn Fuß vor den Versteifungen, die den Stoßdämpfer umgaben, und war über ein System von Kabeln, die über Flaschenzüge liefen, damit verbunden. Auf den ersten Blick sah das furchtbar kompliziert aus und ließ mich eher an Segelboote als an Raumschiffe denken. Aber da die Urnuder solche
Dinger schon seit tausend Jahren bauten, waren sie vermutlich auf eine Methode gekommen, die funktionierte.
    Aus der Kluft darunter schien Licht herauf. Im Näherkommen gingen wir langsamer, beugten uns vor und schauten ins Innere des Ikosaeders, ein Volumen von etwa 23 Kubikmeilen, sanft erleuchtet von Sonnenlicht, das durch andere derartige Lücken eindrang und von den Innenwänden des Ikosaeders und den sechzehn Kugeln reflektiert wurde. Alles entsprach dem, was wir am Modell gesehen hatten, aber der persönliche Augenschein war natürlich etwas ganz anderes. Die Aussicht wurde dominiert von der nächstgelegenen Kugel, die so rasch wie der Sekundenzeiger einer Uhr vorbeischwang und erfreulicherweise mit einer riesigen Zahl im urnudischen Schreibsystem versehen war. Von diesem hatte ich genug gelernt, um sie als die Zahl 5 erkennen zu können. Kugel Fünf beherbergte hochrangige Troäner.
    Alle meine Instinkte geboten mir, mich vor dem Sprung über die Lücke zu

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