Anathem: Roman
fürchten, denn wenn ich »hineinfiel«, würde ich ein riesiges Stück weit hinunterstürzen, ehe ich an einer rotierenden Kugel zerplatzen würde. Aber natürlich gab es hier keine Schwerkraft, kein Hinunter, nichts, in das man hineinfallen konnte.
Osa ging als Erster, sprang über die Lücke und verschaffte sich sicheren Halt an den Streben, die den Stoßdämpfer verstärkten. Vay war die Letzte in der Reihe. Sobald wir alle drüben waren, hangelten wir uns über den Stoßdämpfer, weil wir befürchteten, dass das Klacken unserer magnetischen Stiefel gegen den Stahl eine eindeutige akustische Signatur erzeugen würde. Es kam ein schwindelerregender Moment, als unsere festgefügte Vorstellung von Oben und Unten durch die nächste, sich in den Blick schiebende Facette ins Wanken geriet, die eine neue Ebene und einen neuen Horizont definierte. Dann gewöhnten wir uns daran und schwebten über eine weitere Lücke, wobei wir nach dem gleichen Muster vorgingen wie zuvor. Vielleicht war das eine übertrieben vorsichtige Art, zehn Fuß Raum zu überwinden. Aber wenn wir es alle gleichzeitig taten und zu kräftig absprangen, würden wir vielleicht davontreiben.
Sonnenlicht traf auf die soeben überquerten Streben, als wir die Füße auf die nächste Facette des Ikosaeders setzten, wo wir uns einiger Stunden Dunkelheit sicher sein konnten. Das war mehr Zeit, als wir brauchten. Oder, um die Wahrheit zu sagen, es war mehr, als
wir hatten, da wir nur noch Sauerstoff für eine Stunde besaßen und nicht mehr über die Versorgungseinheit verfügten.
Zwei Meilen entfernt – unmittelbar auf der anderen Seite der Facette – befand sich eine Wasserstoffbombe von der Größe eines sechsstöckigen Bürogebäudes. Eigentlich war sie eiförmig. Doch wie bei einem Käfer, der sich in einem Spinnennetz verfangen hat, wurden ihre Konturen verwischt von einem phantastischen Gewirr aus Streben und Röhren, die sie mit der Vertexzitadelle verbanden. Tatsächlich schien der ganze Vertex keinen anderen praktischen Zweck zu haben als den, dem Weltenverbrenner als Untersatz zu dienen. Selbst wenn er nicht so riesig gewesen wäre, hätte man ihn nur schwer übersehen können, weil er hell beleuchtet war.
Beleuchtet für etwa hundert Leute in Raumanzügen, die daran herumkraxelten.
»Meinst du, sie machen ihn einsatzbereit?«, fragte Arsibalt.
»Ich glaube nicht, dass sie ihm einen neuen Anstrich verpassen«, sagte Jesry.
»Na schön«, sagte Lio. Ich wusste weder, mit wem er sprach, noch, wozu er seine Zustimmung gab. Ein Klicken an der Leine ließ darauf schließen, dass sich gerade jemand ausgeklinkt hatte.
Unser Blick auf den Weltenverbrennerkomplex wurde nun von vier Gestalten in schwarzen Raumanzügen verstellt, die sich von uns anderen gelöst hatten. In der Dunkelheit und mit den Anzügen im Tarnmodus konnten wir sie nicht voneinander unterscheiden, aber irgendetwas an der Art, wie sich diese vier bewegten, überzeugte mich davon, dass es sich um das Klingenthal-Kontingent handelte. Sie gingen nebeneinanderher, wobei einer – vermutlich Fraa Osa – den anderen geringfügig voraus war. Mit jedem Schritt schwärmten sie ein wenig weiter aus.
»Lio? Was ist los?«, fragte ich.
»Eine Emergenz«, argumentierte er.
Als die vier Thaler einen Abstand von etwa zwanzig Fuß zueinander hatten, fuhr Fraa Osa seine Skeletthände aus und zog wie ein Steppenreiter bei einer Schießerei zwei pistolenartige Gegenstände – die Kaltgas-Düsensysteme – aus Holstern, die an den Hüften seines Anzugs befestigt waren. Die anderen drei taten das Gleiche. Dann fiel Fraa Osa allem Anschein nach aufs Gesicht. Er stellte die Füße nebeneinander und ließ sich vom Schwung vorwärtstragen, sodass sich seine magnetischen Sohlen vom Geröll lösten. Sobald
er diese Verbindung zum Ikosaeder verloren hatte, schwangen seine Füße nach oben, und sein ganzer Körper drehte sich im Raum, bis er waagerecht lag. Im selben Moment begann er mit dem Kopf voran auf den Weltenverbrenner zuzugleiten. Er hatte beide Arme seitlich an den Körper gelegt und benutzte die in Richtung seiner Füße zeigenden Kaltgaspistolen dazu, sich wie ein tief fliegender Superheld über das Geröllfeld zu schieben. Vay, Esma und Gratho taten alle dasselbe. Hinter ihnen konnten wir im Licht ein Wabern wie von Hitzewellen sehen, während die farblosen Gasstrahlen sich im Raum verflüchtigten. Zunächst war ihre Bewegung quälend langsam, doch sie nahmen rasch Fahrt auf, korrigierten
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