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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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holen und es in jede Körperzelle zu transportieren. Wenn man ihm Sauerstoff gibt, der sich nur ein kleines bisschen von dem unterscheidet, den es gewöhnt ist, dann funktioniert das zwar immer noch – aber eben nicht so gut. Es ist wie bei einem Aufenthalt in großer Höhe. Man wird kurzatmig, benommen, kann nicht mehr richtig denken.«
    »Halluzinationen?«
    »Vielleicht. Wieso? Hast du halluziniert?«
    »Egal … aber warte mal, Jules kommt doch mit Arbreluft prima zurecht.«
    »Man akklimatisiert sich. Der Körper reagiert dadurch, dass er mehr rote Blutkörperchen produziert. Nach ein, zwei Wochen kommt man damit klar. Zum Beispiel verlassen einige Leute, die auf der Daban Urnud leben, nur ganz selten ihre Heimatkugel. Sie haben Probleme damit, gemeinsame Bereiche des Schiffs aufzusuchen,
wo die Luft eine Mischung darstellt. Andere sind daran gewöhnt.«
    »Wie die fthosische Kosmographin, die uns in die Schleuse beim Observatorium gelassen hat.«
    »Genau. Als sie gesehen hat, wie ihr nach Luft schnappt und allmählich das Bewusstsein verliert, hat sie erkannt, was los war. Und hat Alarm geschlagen.«
    »Ach ja?«, sagte ich.
    Wieder bedachte sie mich mit dem mitleidigen, aber liebevollen Blick. »Wie, hast du etwa gehofft, ihr hättet es geschafft, euch heimlich an Bord zu schleichen?«
    »Ich, äh, dachte wirklich, wir hätten genau das getan!«
    Sie griff nach meiner Hand und küsste sie. »Ich glaube, dein Ego kann sich mit dem zufriedengeben, was ihr tatsächlich geleistet habt – das werden die Leute noch lange Zeit feiern.«
    »Na gut«, sagte ich, da ich fand, dass es Zeit war, von meinem Ego weg auf ein anderes Thema zu kommen. »Sie hat also Alarm geschlagen.«
    »Ja. Natürlich gingen wegen des Chaos, das die Thaler anrichteten, zur selben Zeit noch jede Menge andere Alarme los. Aber es kamen ein paar Sanitäter ins Observatorium, die feststellten, dass ihr bewusstlos, aber noch am Leben wart. Zum Glück für euch sind es die Ärzte hier gewöhnt, mit solchen Problemen umzugehen. Sie haben euch Sauerstoff verabreicht, was zu helfen schien. Aber sie konnten nicht sicher sein; sie hatten noch nie Arbrer behandelt und machten sich Sorgen, ihr könntet Hirnschäden davontragen. Also haben sie euch in einer Unterdruckkammer auf Eis gelegt.«
    »Auf Eis?«
    »Ja. Ganz buchstäblich. Haben eure Körpertemperatur abgesenkt, um Hirnschäden gering zu halten, und euer Blut zugleich so gut es ging mit Sauerstoff aus laterranischer Luft angereichert. Ihr wart eine Woche lang bewusstlos.«
    »Was ist mit Osa und Esma, die sich in diesem Vertex verkrochen hatten?«
    Sie ließ einen langen Moment verstreichen, ehe sie sagte: »Tja, Raz, sie sind gestorben. Die Urnuder sind dahintergekommen, wo sie steckten. Haben ein Loch in die Wand gesprengt. Die ganze Luft hat sich in den Raum verflüchtigt.«
    Eine Minute lang lag ich einfach nur da.

    »Tja«, sagte ich schließlich, »ich schätze, sie sind wie echte Thaler abgetreten.«
    »Ja.«
    Ich lachte auf freudlose Weise. »Und ich habe wie ein echter Nicht-Thaler überlebt.«
    »Und darüber bin ich froh.« Und an dieser Stelle fing sie wieder an zu weinen. Nicht aus Trauer über die toten Thaler. Auch nicht aus Freude darüber, dass wir anderen überlebt hatten. Es war Scham und Schmerz darüber, dass sie uns in eine Lage gebracht hatte, in der wir ohne weiteres hätten sterben können; dass die ihr auferlegte Verantwortung und die Logik der Situation ihr keine andere Möglichkeit als die Schreckliche Entscheidung gelassen hatten. Für den Rest ihres Lebens – unseres Lebens, wie ich hoffte – würde sie deswegen mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachen. Aber diesen Schmerz würde sie für sich behalten müssen, denn die meisten Leute, mit denen sie ihn vielleicht teilen könnte, würden ihr nicht viel Mitgefühl entgegenbringen. »Du hast deine Freunde wohin geschickt!? Während du die ganze Zeit am Boden in Sicherheit warst!?« Es würde also, wie ich wusste, für alle Zeit eine Privatangelegenheit zwischen uns beiden bleiben. Ich wand mich unter ihr hervor und hielt sie eine Zeitlang in den Armen.
    Sobald es mir passend erschien, wieder zu der Geschichte zurückzukehren, sagte ich: »Wie lange waren Osa und Esma denn in diesem Raum eingeschlossen, bevor – bevor es passierte?«
    »Zwei Tage.«
    »Zwei Tage!?«
    »Der Sockel ist davon ausgegangen, dass der Raum vermint war und/oder dass vielleicht noch andere Thaler dort lauerten. Aber sie mussten

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