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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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einschüchternd lange Leiter zu ersteigen. Aber ich wusste, die »Schwerkraft« würde schwächer werden, je höher wir kamen, es würde also nicht allzu anstrengend sein. Während wir uns der Achse näherten, würden wir jedoch starke, desorientierende Trägheitseffekte verspüren. Daher die Sorge im Hinblick auf Kinetose.
    Ich griff nach der untersten Sprosse. »Langsam«, sagte Jules, »setzt jeden Schritt ganz bewusst und wartet, bis er sich richtig anfühlt, ehe ihr euch an den nächsten macht.«
    Da die ganze Leiter in einen röhrenförmigen Käfig eingeschlossen war, bestand kaum Gefahr abzustürzen. Wie empfohlen nahm ich die Sprossen langsam und lauschte auf die Bewegungen von Lio, der sich über mir befand, ehe ich auf die nächste stieg. Aber oberhalb eines bestimmten Punktes wurden die Sprossen weitgehend symbolisch. Ein kurzer Schlenker von Handgelenk oder Finger beförderte uns zur nächsten. Trotzdem behielt der troänische Soldat an der Spitze sein gleichmäßiges Tempo bei – er hatte auf die harte Tour gelernt, dass diejenigen, die zu schnell kletterten, bald nach ihren Tüten greifen würden.
    Ich dachte an das Tastenfeld. Und wenn Fraa Jad nun eine der 9999 falschen Zahlen eingetippt hätte? Wenn er mehrere Versuche gemacht hätte? Irgendwann hätte in irgendeinem Sicherheitsbunker ein rotes Licht aufgeleuchtet. Sie hätten einen Spulocorder
eingeschaltet und ein Livebild von zwei Feuerwehrleuten gesehen, die sich an dem Tastenfeld zu schaffen machten. Sie hätten jemanden geschickt, um sie zu verscheuchen. Diesem Jemand hätte man wahrscheinlich keine Schrotflinte mitgegeben – bloß die nicht tödlichen Waffen, die unsere Eskorte trug.
    Jesrys Worte fielen mir wieder ein: Eine Drohung. Er hatte recht. Die Öffnung des Kugelventils hatte eine tödliche Bedrohung für die gesamte Kugel dargestellt. Kein Wunder, dass die Soldaten einfach heraufgestürmt waren und uns weggepustet hatten! In einem Kosmos, in dem Fraa Jad die Zahl auf dem Tastenfeld wusste – oder erriet -, wurden wir mit Sicherheit getötet. Was es mir offenbar ermöglicht hatte, woanders zu landen.
    Aber was wäre in all den unendlich viel zahlreicheren Kosmen geschehen, in denen er die falsche Zufallszahl eintippte? Wir wären lebendig gefasst worden.
    Was wäre in diesen Kosmen als Nächstes geschehen?
    Man hätte uns eine Zeitlang festgehalten – und dann zu der Unterredung mit Gan Odru gebracht.
    Meine Ohren verrieten mir, dass ich aus der oberen Öffnung des Schachts herausgekommen war, meine Hand fuchtelte in der Luft herum, fand aber keine nächste Sprosse. Stattdessen packte der Troäner sie, zog mich heraus, zog dann in die andere Richtung, um den Schwung abzubremsen, den er mir mitgegeben hatte, und führte mich zu etwas, woran ich mich festhalten konnte. Ich streifte meine Augenbinde ab und sah, dass ich in den Kern gelangt war. Das Kugelventil, das zur achtern gelegenen Lagerkammer führte, lag nur einen Steinwurf weit hinter uns. Die Länge des Kerns in die andere Richtung war nicht abzuschätzen, aber ich wusste, dass sie zweieinviertel Meilen betrug. Alles war genau so, wie ich es in »Erinnerung« hatte: Leuchtende, an der Innenfläche angebrachte Röhren strahlten gefiltertes Sonnenlicht aus, und unter gut geölten Klickund Summgeräuschen lief endlos das Laufband.
    An diesem Nexus stießen drei weitere Schächte auf den Kern. Derjenige, der direkt »über« uns oder uns gegenüber lag, führte in Kugel vier; er sah aus wie eine direkte, geradlinige Fortsetzung des Schachts, den wir gerade hinter uns gelassen hatten. Um die Wand des Kerns herum verlief eine Ringleiter, die einem Zugang zu allen verschaffte. Wer in dergleichen geübt war, konnte einfach hinüberspringen.

    Wir mussten warten. Zunächst einmal mussten diejenigen, die auf der Leiter unter mir waren, zu uns aufschließen. Außerdem war es in dem Schacht zu Kugel vier bereits zu einem Stau gekommen. Es gab Sicherheitsvorschriften, die regelten, wie viele die Leiter gleichzeitig benutzen durften, und ihre Einhaltung wurde überwacht von einem Soldaten, der an der obersten Sprosse postiert war. Irgendeine andere Delegation ging vor uns hinunter – obwohl es von unserem Standpunkt aus so aussah, als erstiegen sie die Leiter mit den Füßen voran -, und wir würden warten müssen, bis sie unten angekommen war.
    Also begannen Lio und ich herumzualbern. Wir beschlossen festzustellen, ob wir reglos im Zentrum des Kerns verharren konnten. Ziel war es, sich

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