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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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jäh in einen anderen Gemütszustand. Wir trugen Lise hinter dem aufblasbaren Pavillon hervor, richteten sie in der Mitte der Straße aus, die zum Ufer führte, und setzten sie ab, während wir darauf warteten, dass die Prozession am anderen Ufer zum Abschluss kam. Natürlich klang die Musik für unsere Ohren fremd, aber auch nicht fremder als vieles, was
man auf Arbre hören konnte. Musik, so schien es, war einer der Orte, wo der Hyläische Fluss besonders stark war – Komponisten in verschiedenen Kosmen hörten im Kopf die gleichen Sachen. Es war ein Trauermarsch. Sehr langsam und düster. Schwer zu sagen, ob sich darin die urnudische Kultur widerspiegelte oder ob er so etwas wie eine Mahnung darstellte, dass die vier in den Särgen viele Geometer getötet hatten und dass wir das besser im Auge behalten sollten, bevor wir darangingen, sie zu feiern.
    Fast funktionierte es. Ich begann tatsächlich, mich dafür schuldig zu fühlen, dass ich die Thaler zur Daban Urnud gebracht hatte. Dann fiel mein Blick auf den Sarg neben meinem Knie, und ich fragte mich, wer hier oben Jules’ Frau in den Rücken geschossen hatte. Wer hatte den Befehl gegeben, Ekba zu stangen? Wer war für Orolos Tod verantwortlich? Stand er oder sie gerade irgendwo am Ufer dieses Teichs? Nicht gerade das, woran ich bei einer Friedenskonferenz denken sollte. Aber wenn wir einander nicht umgebracht hätten, bräuchten wir auch keine.
    Die Soldaten trugen die Särge von Osa, Esma, Vay und Gratho ganz langsam und hielten nach jedem Schritt ein paar Taktschläge inne. Meine Gedanken schweiften ab, wie sie es bei langen Auts immer taten, und ich ertappte mich dabei, dass ich an die vier Thaler dachte und entsann mich meiner ersten Eindrücke von ihnen in Mahsht, als ich in die Ecke getrieben worden war und noch nicht verstanden hatte, was sie waren. Wie Spulos liefen die Szenen in meinem Kopf ab: Osa, wie er auf der Sphär, die mich schützte, auf dem Standbein balancierte und mit blitzschnellen Tritten Angreifer abwehrte. Esma, wie sie über den Platz auf den Heckenschützen zutanzte, während Gratho seinen Körper zu einem Kugelschutzschild für mich machte. Vay, wie sie mich hinterher zusammenflickte – so effektiv und schonungslos, dass mir der Rotz aus der Nase und die Tränen aus den Augen gelaufen waren.
    So wie jetzt, denn ich weinte. Versuchte, mir die letzten Augenblicke der vier vorzustellen. Besonders die von Suur Vay, draußen auf dem Ikosaeder, allein gegen mehrere zu Tode erschrockene Männer mit Schneidewerkzeugen. Allein, im Dunkeln, das blaue Antlitz von Arbre Tausende von Meilen entfernt, während sie in den letzten Momenten sicher wusste, dass sie nie mehr seine Luft atmen, nie mehr die tausend Bäche des Klingenthals hören würde.
    »Raz?« Es war Alas Stimme. Sie hatte mir die Hand – sanfter diesmal
– auf den Oberarm gelegt. Ich wischte mir das Gesicht mit meiner Kulle trocken, konnte einen Moment lang deutlich sehen, ehe sich wieder alles verschleierte. Die Ehrenwache auf der anderen Seite des Teichs hatte die Särge der Thaler abgesetzt und stand erwartungsvoll da. »Zeit zu gehen«, sagte Ala. Lio, Jesry und Arsibalt sahen mich an, und auch sie weinten. Wir beugten die Knie, packten den Sarg, hoben ihn an.
    »Singt etwas«, schlug Ala vor. Wir sahen sie hilflos an, bis sie den Namen eines Gesangs nannte, den wir in Edhar beim Aut des Requiem verwendeten. Arsibalt stimmte ihn an, gab uns mit seinem klaren Tenor die Tonhöhe, und wir anderen setzten mit unseren Stimmen ein. Wir mussten alle ein wenig improvisieren, aber das merkten nur wenige, und es war allen egal. Als wir in Sichtweite des laterranischen Pavillons gelangten, stellte Jules das Dolmetschen ein. Ein Blick hinauf durch die Fenster der Dolmetscherkabine zeigte mir, dass andere Laterraner auf ihn zueilten und ihm die Hand auf Schultern oder Rücken legten. Wir sangen lauter.
    »So viel zur Orth-Übersetzung«, sagte Jesry, sobald wir am Wasser angelangt waren und den Sarg mit Lise abgesetzt hatten. Aber er sagte es auf eine schlichte, traurige Weise, die keine Aggressionen bei mir weckte.
    »Macht nichts«, sagte Lio, »das ist das Gute an einem Aut. Es kommt nicht auf die Worte an.« Und er legte geistesabwesend die Hand auf den Sargdeckel.
    Die Soldaten am anderen Ufer brachten die Särge auf eine Art Prahm. Sie hätten sie schlicht um das Wasser herum zu uns tragen können, aber der Akt des Über-das-Wasser-Setzens war hier offenbar von zeremonieller

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