Anathem: Roman
auf größeres Interesse gestoßen. Die meisten Avot waren sauer über Korlandins Eloquenz – oder Zungenfertigkeit -, und dazu gehörte auch Orolo. Immerhin betonte er aber, Korlandin habe einen peinlichen Moment geschickt überspielt und uns vermutlich extramuros einige Sympathie verschafft.
»Woher weiß man, wann jemand wirklich zungenfertig ist?«, flüsterte Jesry mir zu.
»Keine Ahnung. Woher?«
»Du kommst gar nicht auf die Idee, dass er zungenfertig ist, bis jemand Älterer und Weiserer dich darauf hinweist. Und dann wird dein Gesicht glutrot vor Scham.«
Es folgte mehr Musik, während die meisten von uns Avot aufstanden, um Geschirr abzuräumen und das Dessert zu holen. Das am Anfang so einschüchternde Unterhaltungsprogramm war inzwischen etwas vergnüglicher geworden. Viele der Lieder, die zu dieser Jahreszeit traditionellerweise über Lautsprecher in Kaufhäusern und Aufzügen abgespielt wurden, stammten von liturgischer Musik
ab, die in den Mathen entstanden und während der Apert nach draußen gedrungen war, und viele der Besucher waren angenehm überrascht, vertraute Melodien von den Lippen dieser in Kullen gehüllten Sonderlinge fließen zu hören.
Das Dessert bildeten Blechkuchen, die auf großen Tabletts serviert wurden. Einer von ihnen landete vor Arsibalt – was kein Zufall war. Er nahm den Pfannenwender, der dabei lag: eine flache Metallklinge etwa von der Größe einer Kinderhandfläche. Unmittelbar bevor er sie im Kuchen versenkte, hatte ich eine Idee und hielt ihn auf: »Lassen wir es Dath machen«, sagte ich.
»Als Gastgeber haben wir die Pflicht zu servieren«, wandte Arsibalt ein.
»Du kannst ja servieren, aber ich möchte, dass Dath das Schneiden übernimmt«, beharrte ich. Ich entwand Arsibalt den Pfannenwender und reichte ihn Dath hinüber, der ihn etwas unsicher in die Hand nahm.
Dann erklärte ich ihm, wie er den Kuchen schneiden sollte, ließ ihn dabei aber auf eine ganz bestimmte Art und Weise vorgehen, indem er sich durch die einzelnen Schritte eines alten geometrischen Beweises 1 hindurcharbeitete, den Orolo mir beigebracht hatte, als ich ein frischgebackener Fid war und vor Heimweh nach meinem alten Leben die ganze Nacht geheult hatte. Das dauerte eine ganze Weile, aber schließlich und endlich war an Daths Miene zu erkennen, dass er ihn verstand, und ich konnte sagen: »Glückwunsch. Du hast soeben einen geometrischen Beweis geführt, der Tausende von Jahren alt ist.«
»Hatten sie damals schon Blechkuchen?«
»Nein, aber sie hatten Land und andere Dinge, die sie messen mussten, und dieser Trick funktioniert bei solchen Dingen auch.«
»Aha«, sagte Dath, während er einen Eckpunkt seiner Portion hinunterschlang.
»Du sagst aha, als wäre es keine große Sache, aber für uns ist es eine große Sache«, sagte ich. »Warum sollte ein Beweis, der mit Blechkuchen funktioniert, genauso mit einem Stück Land funktionieren? Kuchen und Land sind verschiedene Dinge.«
Dath, der nur seinen Kuchen essen wollte, hatten wir etwas überfordert, aber Cord sah es. »Ich vermute, ich habe einen unfairen
Vorteil, weil ich bei meiner Arbeit so viel über Geometrie nachdenke. Aber die Antwort lautet: Geometrie ist … nun ja … Geometrie. Sie ist rein. Es ist egal, worauf man sie anwendet.«
»Und wie sich herausstellt, gilt dasselbe neben der Geometrie auch für andere Bereiche der Theorik«, sagte ich. »Du kannst etwas beweisen. Später wird dasselbe vielleicht auf völlig anderem Weg bewiesen; aber am Ende hast du immer dieselbe Antwort. Gleichgültig, wer in welchem Zeitalter über diese Beweise diskutiert, ob sie von Blechkuchen oder Weideland sprechen, sie gelangen immer zur selben Antwort. Diese Wahrheiten scheinen aus einer anderen Welt oder Existenzebene zu kommen. Es ist schwierig, nicht zu glauben, dass diese andere Welt in gewissem Sinne wirklich existiert – nicht nur in unserer Phantasie! Und dort würden wir gerne hingehen.«
»Nach Möglichkeit, ohne vorher sterben zu müssen«, warf Arsibalt ein.
»Wenn ich gerade ein Stück schneide, wird es manchmal zu einem richtigen Zwang«, sagte Cord. »Ich liege wach in meinem Bett und denke über seine Form nach. Vielleicht geht es euch mit dem, womit ihr euch beschäftigt, ja ganz ähnlich?«
»Warum nicht? Du trägst diese Geometrie, die dich fasziniert, im Kopf mit dir herum. Manche würden darin lediglich ein Muster von Neuronen sehen, die in deinem Gehirn feuern. Es hat aber eine unabhängige Realität. Und für
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