Anathem: Roman
dich ist das Nachdenken über diese Realität eine interessante und lohnende Art, dein Leben zu verbringen.«
Rosk war Manualtherapeut – er legte seine Hände auf Leute, um sie wieder in Ordnung zu bringen. »Ich habe an jemandem gearbeitet, der wegen seiner miserablen Körperhaltung einen eingeklemmten Nerv hat«, sagte er. »Das habe ich mit meinem Lehrer über das Nicknack diskutiert – keine Bilder, nur unsere Stimmen. Wir hatten ein langes Gespräch über diesen Nerv und die Muskeln und Sehnen um ihn herum und wie ich sie manipulieren sollte, um den Schmerz lindern zu helfen, und plötzlich ging mir blitzartig auf, wie merkwürdig das Ganze war – beide bezogen wir uns auf dieses Bild – dieses Modell – vom Körper eines anderen Menschen, das in seinem Kopf und in meinem Kopf war, aber …«
»Scheinbar auch an einem dritten Ort«, bemerkte ich, »einem, der euch gemeinsam war.«
»Genauso fühlte es sich an. Nachdem es mich für kurze Zeit
wahnsinnig gemacht hatte, verbannte ich es aus meinem Kopf, weil ich mich einfach nur sonderbar fand.«
»Tja, seit Knous hat es Menschen wahnsinnig gemacht, und das hier ist so etwas wie eine Zuflucht für Leute, die nicht aufhören können, darüber nachzudenken«, sagte ich. »Es ist nicht für jeden etwas, aber es ist harmlos.«
»Jedenfalls seit der Dritten Verheerung«, sagte Rosk.
Dass er es so dahingesagt hatte, machte es zehn Mal unhöflicher, als es eigentlich war. Ich sah Cords Gesicht rot anlaufen und nahm an, dass sie ihm nach dem Abendessen die Meinung sagen würde. Ob er je wirklich verstehen würde, warum es so verabscheuungswürdig war, das zu sagen, sei einmal dahingestellt.
Leute forderten uns auf, still zu sein, denn wir hatten den Teil des Auts erreicht, wo die Neuankömmlinge am erhöhten Tisch vorgeführt wurden.
Acht Findlinge waren zugelassen worden. Ein Mädchen war kränklich und würde im Unariermath bleiben, wo die Ärzte sie leichter im Auge behalten konnten. Bei zwei Kindern war die Nabelschnur noch nicht abgefallen, was bedeutete, dass sie nach einem kurzen Aufenthalt bei den Hundertern für den Millenariermath bestimmt waren. Wir würden sie durch unser oberes Labyrinth weitergeben. Die übrigen fünf waren etwas älter, würden also zu den Hundertern durchgereicht werden.
Sechsunddreißig Jugendliche mussten zugelassen werden. Siebzehn, darunter auch Barb, würden direkt in unseren Math kommen. Die anderen würden, vorläufig zumindest, bei den Einsern bleiben. Mit ein wenig Glück würden einige von ihnen später in unseren Math graduieren.
Von den Einsern hatten zwölf beschlossen, das zu tun. Neun weitere waren aus einem anderen, kleineren Konzent in den Bergen gekommen, der uns als Zulieferer diente.
Sie alle wurden vor den erhöhten Tisch gebracht, willkommen geheißen und mit Beifall bedacht. Morgen, wenn das Tor wieder geschlossen war, würden wir ihre Ankunft mit einer weitaus langweiligeren Zeremonie feiern. Heute war der Moment, wo die extramurische Obrigkeit dem Ganzen ihren speziellen Langeweilestempel aufdrücken konnte. Nach alter Tradition war es Aufgabe des höchstrangigen anwesenden Zampanos, aufzustehen und uns die Neulinge offiziell zu übergeben. In dem Augenblick gingen sie aus
der säkularen in die mathische Gerichtsbarkeit über. Wir wurden zuständig dafür, sie unterzubringen und zu ernähren, uns um sie zu kümmern, wenn sie krank wurden, sie zu begraben, wenn sie starben, und sie zu bestrafen, wenn sie sich schlecht benahmen. Es war, als hörten sie in diesem Moment auf, Bürger eines Landes zu sein, um Bürger eines anderen zu werden. Aus rechtlicher Sicht war es also eine große Sache, die durch das Sprechen bestimmter Eidesformeln und das Läuten einer Glocke feierlich begangen werden musste. Und nach einer fast ebenso alten Tradition würde der besagte Repräsentant sie als Vorwand dafür nutzen, »ein paar Bemerkungen zu machen«.
Dieser erwies sich als der komische Vogel mit dem Seil um den Leib, der am ersten Morgen der Apert mit seinem Kontingent am Tagestor erschienen war. Er war, wie sich herausstellte, der Bürgermeister.
Nachdem er allen von Gott abwärts und wieder aufwärts zu Gott zurück gedankt und dann vorsichtshalber noch einen pauschalen Dank an alle Personen oder übernatürlichen Wesen hinzugefügt hatte, die nicht erwähnt worden waren, hob er an: »Selbst die unter euch, die in Saunt Edhar leben, haben sicher inzwischen wahrgenommen, dass die vom Elften
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