Anathem: Roman
interessanter wären als das, was du in der materiellen Welt vorfindest?«, versuchte ich es.
»Ahaa …«
»Man könnte sagen, der Unterschied zwischen uns und dir besteht darin, dass wir infiziert sind von der Vision einer … anderen Welt.« Ich hatte schon »einer größeren« oder »einer höheren« auf der Zunge gehabt, mich aber für »eine andere« entschieden.
»Die Infektionsmetapher gefällt mir nicht«, begann Arsibalt auf Orth. Ich stieß ihn unter dem Tisch mit dem Knie an.
»Du meinst, so etwas wie einen anderen Planeten?«, fragte Dath.
»Das ist eine interessante Sichtweise«, sagte ich. »Die meisten von uns glauben nicht, dass es ein anderer Planet im Sinne eines SF-Spulos ist. Vielleicht ist es die Zukunft dieser Welt. Vielleicht ist es ein alternatives Universum, zu dem wir nicht gelangen können. Vielleicht ist es auch nichts als eine Phantasie. Auf alle Fälle lebt es aber in unseren Herzen, und wir können nicht anders, als danach zu streben.«
»Wie ist diese Welt?«, fragte Dath.
Hinter mir ertönte der Klingelton irgendeines Nicknacks. Es war gar nicht besonders laut, aber irgendetwas daran blockierte mein Gehirn. »Zunächst einmal gibt es die dort nicht«, erklärte ich Dath.
Nachdem das Nicknack eine Weile geklingelt hatte, drehte ich mich um. Jeder in einem Radius von zwanzig Fuß starrte Jesrys älteren Bruder an, der sich am ganzen Körper abtastete, um herauszufinden, in welcher der Taschen seines Anzugs das Nicknack steckte. Schließlich holte er es heraus und brachte es zum Verstummen. Als hätte er nicht schon genug Aufmerksamkeit auf sich gezogen, stand er auf und brüllte seinen eigenen Namen. »Ja, Doktor Grane«, fuhr er fort, den Blick wie ein Heiliger in die Ferne gerichtet. »Verstehe. Verstehe. Können sie auch Menschen befallen? Wirklich ?! Das war doch nur ein Scherz. Und woher wüssten wir, ob das passiert ist?«
Die Leute wandten sich wieder ihrem Essen zu, aber Gespräche kamen wegen sporadischer Einwürfe von Jesrys Bruder nur langsam wieder in Gang.
Arsibalt räusperte sich, wie nur Arsibalt sich räuspern konnte; das klang wie das Ende der Welt. »Gleich spricht der Primas.«
Ich drehte mich um und schaute Jesry an, der das ebenfalls bemerkt hatte und mit den Armen vor seinem Bruder herumwedelte. Der starrte jedoch geradewegs durch ihn hindurch. Er war dabei, einen Mengenrabatt für Biopsien auszuhandeln. Er war ein sehr harter Verhandlungspartner. Frauen aus der Tischgesellschaft – Schwestern und Schwägerinnen von Jesry – hatten angefangen, sich zu schämen und den Mann am Ärmel zu ziehen. Er wirbelte herum und stolzierte von uns fort: »Entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor, das Letzte habe ich nicht mitbekommen. Haben Sie von Larven gesprochen?« Zu seiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, dass
er, wie ich bei einem Blick in die Runde feststellen musste, nur einer von vielen war, die aus diesem oder jenem Grund ihr Nicknack benutzten.
Statho hatte schon zwei Mal zu uns gesprochen. Das erste Mal angeblich, um alle zu begrüßen, in Wirklichkeit jedoch, um uns dazu zu drängen, unsere Plätze einzunehmen. Das zweite Mal zum Anstimmen der Anrufung, die von Diax selbst geschrieben worden war, als er vom Rechen noch frische Blasen an den Händen hatte. Wenn man Protoorth verstand und zufällig ein schwachköpfiger, Zahlen verehrender Enthusiast war, vermittelte die Anrufung einem das Gefühl, eindeutig unerwünscht zu sein. Alle anderen fanden einfach, dass es dem ganzen Ablauf noch einen Hauch von Klasse verlieh.
Jetzt erklärte er uns, wir würden gleich von einem Kontingent Edharier unterhalten. Statho beherrschte das Fluckische nicht besonders gut; seine Formulierung klang wie ein Befehl , sich unterhalten zu lassen. Das erzeugte Gelächter in der Menge, worauf er sich verblüfft um eine Erklärung an die (ihn am erhöhten Tisch einrahmenden) Inquisitoren wandte.
Drei Fraas und zwei Suurs sangen eine fünfteilige Motette, während zwölf andere vor ihnen herumliefen. Genau genommen liefen sie nicht herum; von unseren Plätzen aus wirkte es nur so. Jeder von ihnen stellte einen oberen oder unteren Index in einer theorischen Gleichung dar, in der es um gewisse Tensoren und eine Metrik ging. Wie sie so vor- und zurücktraten, die Wege der anderen kreuzten und die Plätze miteinander tauschten, indem sie vor dem erhöhten Tisch die Seiten wechselten, agierten sie eine Gleichung zur Krümmung einer vierdimensionalen Mannigfaltigkeit aus, die
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