Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
Vom Netzwerk:
und Seán antwortete mit einem winzigen, verständnisvollen Grunzen.
    »Wer ist eine kleine Süße?«, sagte er und zog den Kopf zurück, um sie anzuschauen. Er ruckelte an ihrem Fuß, der von Fiachras Armbeuge baumelte. »Wer ist eine kleine Süße?«
    Ich sage nicht, dass es sexuell war, ich sage, dass es ein Moment starker körperlicher Intimität war, der sich in der Diele meiner Mutter ereignete, während ich eine Tüte warmer Croissants in der Hand hielt und zusah.
    »Kaffee?«, fragte ich.
    »Wunderbar.«
    »Ja, gerne.«
    Aber keiner rührte sich.
    Nach dieser anfänglichen Offenheit schien Seán das Kind, das zugegebenerweise hinreißend war, zu ignorieren. Sie saß auf dem Schoß ihres Vaters und verzehrte mit inniger und ehrfurchtsvoller Aufmerksamkeit ihr Croissant, während Fiachra Geschichten aus seinem neuen Leben als Hausmann erzählte. Auf dem Arbeitsamt in der Cumberland Street habe er mit den Junkies in einer Schlange gestanden, sagte er, und seine Tochter habe aus ihrem Hummer-Buggy heraus mit großen Augen verfolgt, wie der Bursche vor ihm plötzlich ein Imbissbudenmesserchen aus weißem Plastik zückte, damit herumfuchtelte und rief: »Ich schlitz mich auf, Scheiße noch mal, ich schlitz mich auf.« Ein Bulle, groß und lässig, sei auf ihn zugegangen und habe sich auf dem Weg Latexhandschuhe übergestreift.
    »Allmächtiger Gott.«
    Seán lehnte sich gegen den Küchentresen und lachte. Er schob die Kaffeekanne auf dem Herd weiter nach hinten. Er ging zum Abfalleimer und zurrte den Plastikmüllsack fest. Er ging hinaus in die Diele, als stünde jemand an der Tür, und kam wieder herein. Nach einer Weile begriff ich, dass er die Kleine nicht etwa ignorierte, sondern eher um sie herumstrich. Die ganze Zeit über näherte er sich ihr und mied sie zugleich. Später sagte ich ihm, er sei wie ein Geschöpf aus einem Naturfilm von David Attenborough gewesen: vielleicht einer von diesen Silberrücken, der vergessen hat, wo die Gorillababys herkommen, und dann flutscht aus der Gorillamutti eins heraus, und er weiß nicht, was er damit anfangen soll. Es knuddeln? Es auffressen? Es aufheben und ins Gebüsch schleudern?
    »Bist du fertig?«, fragte er.
    »Wahrscheinlich«, antwortete ich.
    »Gut«, sagte er. Dann verließ er die Küche und kam drei Tage lang nicht zurück.
    Ich war ja so beschränkt gewesen. Es ging überhaupt nicht um Aileen – dieser Schmerz, mit dem ich leben, den ich umgehen und unentwegt lindern musste. Er galt Evie.
    »Ich habe ihr gegenüber versagt«, sagte er.
    Er stand mit dem Rücken zum Fenster am Küchentresen, die gleiche Stelle und die gleiche Silhouette wie an dem Tag, als er zugesehen hatte, wie Fiachras Kind sich mit Aprikosenmarmelade vollschmierte. Es war Juli, und noch immer stand nichts fest, nicht einmal ein Urlaub. Seán rieb sich mit den Händen das Gesicht, dann scheuerte er die Kopfhaut am unteren Ende seines Schädels. Mund und Kinn waren verzerrt, die Augen zugekniffen. Seiner Kehle entrang sich ein Wimmerlaut, und zwischen den Augenlidern traten Tränen aus, rund und klar.
    Er weinte. Und das war eindeutig etwas, worin er sehr wenig Übung hatte. Seán, der Charmeur, war nicht in der Lage, auf charmante Art zu weinen. Er weinte wie ein Mutant, ganz verzerrt und in sich selbst zurückgezogen.
    Es hielt nicht lange an. Ich mixte ihm eine Bloody Mary, und er setzte sich an den Tisch, um sie zu trinken. Er wollte nicht umarmt oder berührt werden – ich versuchte es gar nicht erst. Wie hatte er das nur tun können, äußerte er. Einem Kind gegenüber zu versagen, es war unbegreiflich. Es war nicht möglich, einem Kind gegenüber zu versagen. Aber er hatte es getan. Er hatte das Unmögliche getan.
    Später, im Dunkeln, hielt ich ihn in meinen Armen und sagte ihm, das ganze Projekt habe mit Versagen zu tun. Das Versagen sei ihm eingeschrieben.
     
    Ende August nahm Seán mich mit nach Budapest, als Entschädigung dafür, dass mein Sommer ruiniert war, weil ich einen Familienvater liebte. Wir spazierten an der Donau entlang und redeten darüber, was er tun werde, und er begann, mir von Evie zu erzählen.
    Als Evie vier war, sagte er, war sie in Enniskerry von der Gartenschaukel gefallen, und sie hatten eine Gehirnerschütterung vermutet. Das Au-pair-Mädchen hatte nicht einmal gesehen, wie es geschah; als sie sich umgedreht hatte, war das Kind verschwunden, nur der Plastiksitz der Schaukel bewegte sich noch. Abends um halb sieben war Aileen nach Hause gekommen und

Weitere Kostenlose Bücher