Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
Vom Netzwerk:
wieder zum Fenster umwandte, als wolle er fragen: Was ist nur mit dem Licht passiert? Wie ein Hund bei Sonnenfinsternis, sagte meine Mutter. Das war, als er seine letzte Krankheit hatte. Etwas Komisches an der Galle, das seine Leber in Mitleidenschaft zog, und die Giftstoffe in seinem Blut richteten schwere Zerstörungen in seinem Gehirn an. Die Welt drehte sich weiter, aber für ihn ergab sie keinen Sinn mehr. Es dauerte eine Weile, bis wir es bemerkten – die Demenz verlieh meinem Vater eine schroffe, paranoide Ausstrahlung. Er wurde energischer und traute niemandem. Es war genau, wie er es immer vermutet hatte .
    Eines Nachmittags kam ich mit nassen Haaren aus dem Schwimmbad im Terenure College. Es müssen Jungs dabei gewesen sein; irgendetwas an mir ließ auf ein schlechtes Gewissen schließen.
    »Warum ist die da nass?«, fragte er und sah Fiona an, als wäre ich die größte Närrin.
    »Sie ist schwimmen gegangen, Papa.«
    »Schwimmen?«
    Schwer zu sagen, welchen Teil des Satzes er nicht verstand; ob er vergessen hatte, was schwimmen war, oder Wasser, oder Nässe. Doch eins vergaß er bis zum Schluss nicht: wie man einen Menschen gegen den anderen ausspielt. Darauf verstand er sich auch dann noch, als ihm alles andere bereits abhandengekommen war.
    »Eine Frau sollte entweder sehr schön oder sehr interessant sein«, pflegte er zu sagen, als er noch wohlauf war. »Und du, meine Liebe, bist wahnsinnig interessant.«
    Er sprach es »wohnsinnig« aus, in jenem gewollten Tonfall, dessen er sich befleißigte, wenn er seine Bonmots zum Besten gab. Fiona, versteht sich, war wohnsinnig schön.
    Er vergaß auch nicht, wie man trank. Fiona würde das bestreiten, aber ich habe noch deutlich in Erinnerung, wie wir mit einem Flachmann Gin, den wir in dem Spirituosengeschäft vor dem Park erstanden hatten, die Harold’s Cross Road zum Hospiz hinuntergingen. Wir hatten ihn uns vom Taschengeld abgespart.
    Als wir sein Zimmer fanden, saß er aufrecht im Bett, wusste aber nicht, wer wir waren. Zu Fiona sagte er: »Wer bist du? Warum küsst du mich?« Doch den Unterschied zwischen Wodka und Gin kannte er durchaus noch. Dass das Getränk wie Wasser aussehen sollte, wussten wir, aber anscheinend hatten wir das falsche gewählt. Er spie es in seinen Zahnputzbecher und sagte: »Wie nennt ihr denn das?«
    Dann trank er es trotzdem.
    Es war, als sei er aus Glas gemacht, so schlaff und geräuschvoll waren seine Eingeweide geworden. Man konnte hören, wie die Flüssigkeit in seinen Magen wanderte, wie sie die Speiseröhre hinabrieselte und in seinen Bauch gluckerte. Als sie ihm wieder hochkam, ertönte ein gepresstes Ächzen, und als er sie erneut hinunterwürgte, zog er eine komisch grimmige Miene. Er schloss die Augen und ruhte sich aus. Dann schlug er sie wieder auf und war für zwei, vielleicht fünf Minuten vollkommen er selbst. War der Mann, den wir kannten: gescheit, geschäftig, raumgreifend.
    »Meine Liebe, wenn du aufhören würdest, dir auf die Lippen zu beißen, hättest du nicht einen so ausgefransten Mund.«
    Mein Vater beschwerte sich oft über meinen Mund; er verleihe mir einen überheblichen Gesichtsausdruck. »Was soll die Schnute?«, fragte er; oder einmal, denkwürdigerweise, zu einem seiner Kumpane: »Davon, dass sie Orangen durch einen Tennisschläger saugt, kommt es jedenfalls nicht.«
    Aber er sagte auch eine Menge netter Dinge. Mein Vater behandelte uns nie wie Kinder. Wenn man ihn kränkte, kränkte er einen sofort zurück. Wenn man ihn zum Lachen brachte, entfesselte er vor Entzücken ganze Lachstürme. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Leute damals schon »auf Kinder machten«, so wie Fiona »auf Kinder macht«, à la Räum dein Spielzeug auf, dann wird geknuddelt . Wenn mein Vater da war, gab es den ganzen Tag über Drama, und zwar so heftig, wie es eben nötig war. Er stritt mit meiner Mutter, er liebte meine Mutter. Er verschwand spurlos. Er kam nach Hause und war ungepflegt und großherzig. Das liebte ich an ihm, diese wunderbare Ausstrahlung von Gefahr und Überraschung.
    Als ich älter wurde, hasste ich den Anblick, den er bot, wenn er betrunken war: die Art, wie er das Gesicht herumschwenkte, um uns zu finden, und den sorgfältig gewählten Unsinn, den er dabei von sich gab. Ich hasste es, wie er dasaß – in gütiger Entrücktheit oder grausam besessen von einer tumben Kreatur, die jeden Satz zu uns herüberrollte, den er gerade in seinem Kopf zu formulieren vermochte: freundlich,

Weitere Kostenlose Bücher