Anatomie
sie mir geschickt, als ich in Übersee war. Der letzte Brief, den ich je von ihr bekommen habe.« Ich studierte ihr Gesicht; sie sah fast so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte, bis auf den Hauch Traurigkeit und Angst in ihren Zügen, den ich nicht erwartet hatte. Vielleicht war es da schon schwierig für sie. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, es mir zu borgen, damit ich mir eine Kopie davon machen kann? Ich passe gut darauf auf.«
»Natürlich nicht. Alles, was hilft. Gibt es Fortschritte bei den Ermittlungen?«
»Eigentlich nicht. Es sei denn, man betrachtet den Einbruch in mein Büro und den Einsturz der Höhle als Fortschritte. Es könnte sein, dass einige verärgerte Studenten einen Anschlag auf mein Leben als einen Schritt in die richtige Richtung betrachten, aber es wirft kein Licht auf den Mord.«
»Vielleicht nicht direkt. Aber irgendjemand ist sehr nervös. Fürchtet wohl, Sie könnten noch mehr finden oder herausbekommen.«
»Nun, ich wünschte, ich wäre so klug, wie dieser Jemand denkt.«
»Die Antwort wird bald hochkommen. Sie müssen es nur eine Weile köcheln lassen.« Er stand auf. »Apropos kochen lassen, wie wäre es mit einer Tasse Tee?«
»Sicher, wenn Sie einen mittrinken.«
O’Conner verschwand durch die Fliegengittertür, kam eine Minute später wieder und reichte mir einen von zwei Keramikbechern – sie waren handgetöpfert und mit dem Abdruck eines Farns verziert. »Hübsche Becher«, sagte ich und erinnerte mich daran, was Kathleen mir über Formen und Glasierungen beigebracht hatte. »Örtlicher Töpfer?«
Er lächelte. »Örtlicher könnte er gar nicht sein. Die habe ich selbst gemacht. Alles, was Sie in der Hand halten, kommt von diesem Stück Land – der Ton, der Farn, das Quellwasser, der Honig und sogar der Tee.«
»Sie sind eine Ein-Mann-Biosphäre.«
»Ich bin gerne unabhängig, wo es geht. Seinen Bedarf an Nahrung und alltäglichen Gerätschaften selbst zu decken ist wohl auf einer tiefen Ebene sehr befriedigend, wenigstens für mich. Hilft einem Mann irgendwie, ehrlich zu bleiben.«
Für einen bekannten Banditen war O’Conner ein wahrer Renaissancemensch: Philosoph, Töpfer, Bienenzüchter, Teebauer. Ich nahm einen Schluck der dampfenden Brühe und schob ihn verdutzt im Mund herum – so einen Tee hatte ich noch nie getrunken. Unter dem Honig hatte er einen bitteren, felsigen Beigeschmack. Er schmeckte irgendwie nach Bergen und Blättern und Wurzeln und Frühling. »Das ist interessant. Könnte sein, dass ich es mag, aber ich bin mir nicht sicher. Was ist es?«
Er beugte sich ein wenig vor und quittierte das Beinahe-Kompliment mit einem Lächeln. »Ginseng. Die meisten Leute hier in der Gegend nennen es ›Sang‹. Macht einen klüger, gesünder, geiler und potenter, wenn man fünf Jahrtausenden chinesischer und indianischer Erfahrung glauben kann. Die Studentinnen an der University of Tennessee sollten sich morgen vor Ihnen hüten, Doc.« Bilder von Sarah und Miranda blitzten vor meinem geistigen Auge auf, und ich spürte, wie ich rot wurde. »Verstehe«, sagte O’Conner, »es wirkt schon.«
Ich lachte trotz der Peinlichkeit. »Na, klüger fühle ich mich jedenfalls noch nicht.«
»Diese Wirkung tritt erst ab der dritten, vierten Tasse ein. Es ist Tee, Doc, kein Wundertrank.«
Wir schaukelten und tranken unseren Tee. Jenseits des Tals kroch eine dicke Nebelwand über den Berg. Als sie auf die Morgensonne traf, die ihre Strahlen schräg über den Kamm hinter uns schickte, wurde der Nebel an den Rändern weich und dünn und löste sich dann auf. »Doc, glauben Sie, wir Menschen sind mehr als ein vorüberziehender Nebelfetzen?«
Wollte er etwa über Sterblichkeit reden? »Das hängt ganz davon ab, wie man es betrachtet, Jim.« Ich zeigte über das Tal. »Bevor er sich verflüchtigte, ist dieser Nebelfetzen über die Schierlingstannen etwa auf halber Höhe des Bergs getrieben. Ich würde sagen, diese Bäume wachsen deswegen ein bisschen besser. Vielleicht auch ein paar Farne am Fuß dieser Bäume. So trocken, wie das Wetter in letzter Zeit war, könnte es sogar sein, dass dieser Morgennebel den Farn am Leben hält. Wenn das nächste Mal ein Töpfer ein paar Farnwedel braucht, um sie in einen Tonbecher zu drücken …«, ich hob meine Tasse, um meine Worte zu unterstreichen, »dann sind sie da und warten auf ihn.«
Ich trank noch einen Schluck und musste feststellen, dass der Geschmack mir immer besser
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