Anatomie
Rebell ohne gute Sache? Ein vogelfreier Bauer ohne eine Feldfrucht, die er verkaufen kann?«
Einfach so erhellte ein sonniges Grinsen seine Miene. »Wie gesagt, ich denke, Sie werden es interessant finden.« Er nahm mich am Arm, führte mich ins Haus, durch ein spärlich möbliertes Wohnzimmer und eine überraschend moderne Küche dahinter, dann hinaus auf eine von Kudzu überwucherte hintere Veranda. Von dort unter dem Blätterdach sah ich etwas, was vor dem Haus vollkommen unsichtbar war: Die hintere Veranda war der Zugang zu einem weiteren Kudzutunnel. Quasi die Wohnzimmerversion der gut getarnten Zufahrt.
»Was ist denn das? Ihr Fluchttunnel?« Er antwortete nicht, sondern zog mich nur weiter mit sich, von der Veranda hinunter durch eine Art Laube oder Spalier, rund fünfzig Meter lang. Dann öffnete sich der Tunnel, und ich fand mich auf einem riesigen offenen Acker von der Größe mehrerer Footballfelder, der mit einem Gitter aus Telefonmasten durchzogen war. Die Masten stützten ein wirres Netz aus Kabeln, und die Kabel stützten einen riesigen Kudzubaldachin, der das Licht filterte und alles grün tönte. Es wirkte fast, als wären wir in einer Kuppel unter dem Meer, so grün und außerirdisch kam es mir vor. Zu unseren Füßen erstreckten sich über, wie es mir vorkam, das halbe Tal ordentliche Reihen von kniehohen Pflanzen mit flaumigen Blättern, die geformt waren wie spitze Tränen. Auf jedem Blätterbüschel saß eine Traube roter Beeren.
Ich pfiff leise. »Da bekommt der Begriff ›grüner Daumen‹ doch eine ganz neue Bedeutung«, sagte ich. »Was bauen Sie unter dem ganzen Kudzu an? Sieht mir nicht aus wie Cousin Verns Pot-Pflanzen.«
»Sang«, sagte er. »Zehn Morgen Ginseng. Straßenverkaufswert ungefähr drei Millionen Dollar, wenn ich es jetzt gleich ernte. Wenn ich noch ein Jahr warte, vier Millionen Dollar. Im Jahr danach fünf.«
Ich konnte ihm nicht recht folgen. »Straßenverkaufswert? Sie reden, als wäre es illegal. Ist es illegal?«
Er lachte. »Tut mir leid; alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab. Es ist vollkommen legal, Ginseng anzubauen, aber dieser Ginseng ist anders als aller anderer Sang auf der Welt.«
»Wie das?«
»Ur-Ginseng«, sagte er. »Nicht aller Ginseng ist gleich. Es gibt einen riesigen Markt für Sang, hauptsächlich in China. Die kultivieren ihn dort seit Jahrhunderten. Aber der wahre chinesische Kenner rümpft die Nase über das, was sie dort anbauen. Amerikanischer Ginseng – wilder amerikanischer Ginseng, wohlgemerkt, auch bekannt als schwarzer Ginseng –, das ist die Auslese. Frühe jesuitische Missionare haben ein Vermögen damit verdient, schwarzen Sang nach China zu verschiffen; genau wie die Astors aus New York. Selbst Daniel Boone hat ganze Bootsladungen davon verkauft.« Seine Hausaufgaben hatte er jedenfalls gemacht.
»Ginseng wächst wunderbar hier in den Smoky Mountains«, fuhr er fort. »Liebt Nordhänge mit viel Schatten, einen Boden mit dem richtigen PH-Wert und eine spezielle Mineralienzusammensetzung. Einige der besten Stellen haben sogar Namen – ›der Zuckertopf‹ und ›die Goldmine‹ zum Beispiel. Erstklassige Stellen, selbst im Nationalpark, werden als Familienerbstücke betrachtet, als Familienvermögen. Die Lage dieser Stellen wird streng geheim gehalten, und ein paar von den Alten würden nicht zögern, jemanden zu erschießen, den sie dabei erwischen, wie er ›ihre‹ Stellen plündert. Vor ein paar Jahren wurden bei einer Razzia gegen Ginseng-Wilderer in der Nähe von Fontana Lake in dem Teil des Parks, der in North Carolina liegt, zwei Parkranger in einen Hinterhalt gelockt und getötet.«
»Ich erinnere mich daran, das hat in der Zeitung gestanden. Ich wusste gar nicht, dass Parkranger so ein gefährlicher Beruf ist.«
»Viele Familien in den Bergen sind immer noch nicht gut auf die Regierung zu sprechen, weil sie ihnen ihr Land weggenommen hat, um den Nationalpark einzurichten. Und den Sang graben sie auf jeden Fall weiter aus.« Er schüttelte den Kopf. »Die Sache ist nur, dass das Glück nicht lange währt. Eine wilde Ginsengwurzel braucht zehn oder fünfzehn Jahre, bis sie ausgewachsen ist; mit einem gegabelten Stock oder einem Schraubenzieher braucht man keine zwei Stunden, um Hunderte davon auszugraben. Ganze Hänge im Park sehen aus wie von Wildschweinen durchpflügt.«
»Aber wenn er angebaut werden kann«, sagte ich und wies über das Feld, das sich vor uns erstreckte, »warum bauen die Leute ihn nicht
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