Anatomie
verwittertes, wurmstichiges Holz aussieht. Dadurch braucht die Pflanze ein Jahr länger, um zu einer reifen, an die menschliche Gestalt erinnernden Wurzel heranzuwachsen, aber dieses zusätzliche Jahr zahlt sich zehnfach aus, wenn wir ernten.«
»Haben Sie das Zeug schon an Käufern getestet?«
Er grinste. »Da war ich einen Teil letzter Woche. Nicht nur bei Käufern, sondern auch bei Chemikern. Die Chemiker sagen, es entspricht in seiner Zusammensetzung exakt wildem schwarzem Ginseng. Die Exporteure sagen, sie nehmen alles ab, was ich liefern kann.«
Plötzlich ergab die ganze Geheimniskrämerei Sinn. »Dann dienen die Kudzutarnung und die versteckte Straße … Sie halten die Operation geheim, damit niemand erfährt, dass Sie das Zeug hier anbauen?«
Er nickte. »Zudem sorgt der Kudzu für den Schatten, den der Ginseng braucht. Ich schätze, meine Deckung fliegt in ein paar Jahren auf, aber bis dahin habe ich etliche Millionen Dollar verdient. Aber selbst wenn ich irgendwann mit dem Preis runtergehen muss, bin ich den Käseköpfen immer noch weit voraus. Ich meine, sehen Sie sich an, was die produzieren.« Er wies verächtlich auf die glatte Wurzel in meiner Hand. »Das ist wie eine Supermarkt-Tomate – die richtige Größe und Farbe, aber ein trauriger Ersatz für das am Stock gereifte Original. Schwarzer Ginseng aus Cooke County – ich habe mir den Namen schon als Warenzeichen eintragen lassen – wird die Vidalia-Zwiebel des Ginseng. Die Leute werden immer mehr dafür bezahlen, weil es der beste Ginseng ist, den es gibt. Wenn Marketing und Vertrieb so laufen wie geplant, schaffen wir in zwei Jahren hundert Arbeitsplätze. Vielleicht tragen wir auch dazu bei, die Wilderei in den Smokies zu reduzieren, und das wäre etwas, worauf man stolz sein könnte.«
»Sie widersetzen sich ja allen Erwartungen, Jim«, sagte ich. »Der Hinterwäldler wird niemals mehr derselbe sein.«
Doch O’Conner hörte mir nicht mehr zu. Er war plötzlich einen Schritt zur Seite getreten und hatte den Kopf Richtung Haus geneigt. Jetzt legte er beide Hände hinter die Ohren, um mehr von dem aufzufangen, was er zu hören glaubte. »Verdammt«, sagte er bei sich und lief in den Kudzutunnel.
Als er durch die Hintertür im Haus verschwand, hörte ich es selbst. »Verdammt.« Ich fing ebenfalls an zu rennen.
Als ich auf der vorderen Veranda stand, war aus dem fernen Geräusch das charakteristische, rhythmisch drohende Knattern eines Hubschrauberrotors geworden. Wenn ich nicht völlig danebenlag, dann wurde der Hubschrauber von Chief Deputy Orbin Kitchings geflogen.
O’Conner starrte, die Augen mit einer Hand abschirmend, auf die Öffnung seines hängenden Tals. So wie das Dröhnen an den Felswänden widerhallte, kam der Hubschrauber im Tiefflug rasch auf uns zu. Plötzlich kam er in Sicht, stieg aus der Schlucht am unteren Ende des Tals auf, fast als erhöbe er sich aus der Erde selbst. Schwarz mit goldenen Zierleisten war es unverkennbar der Jet-Ranger des Sheriffs, und er flog direkt auf uns zu.
O’Conner fluchte noch einmal. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um etwas Beruhigendes und wahrscheinlich völlig Unangebrachtes zu sagen, als ein Knall die Luft zerriss. »Mein Gott, da schießt jemand!« O’Conner blickte an der Felswand hoch, die an einer Seite am Haus vorbeilief. Als ein weiterer Schuss losging, sah ich, dass vom Heckausleger des Hubschraubers Funken stoben. »Oben auf der Felswand«, sagte er. »Das ist ein Hochleistungsgewehr. Das sind keine Warnschüsse – jemand versucht, ihn runterzuholen.«
Als hätte der Pilot ihn gehört, blieb der Hubschrauber mitten in der Luft stehen, drehte scharf nach links und kam in wildem Zickzack auf uns zugeflogen. Ich erinnerte mich daran, dass Orbin Pilot bei der Armee gewesen war, und hoffte, dass er noch so viel aus seiner Gefechtsausbildung drauf hatte, dass er den Scharfschützen ausmanövrieren konnte.
In meinem Kopf drehten sich etliche Rädchen wie wild, und ich dachte zurück an meine Exkursion zum Pot-Feld mit Waylon und an den Zorn, der ihn überkommen hatte, als Orbin Vernons Hund erschossen hatte. »Wir müssen Waylon finden«, sagte ich drängend. »Wo ist Waylon?« Zum Glück fuhr plötzlich wie von Zauberhand Waylons Pick-up vor der Veranda vor. O’Conner winkte hektisch und zeigte auf den Kamm, da blitzte auch schon ein weiteres Mündungsfeuer auf. Ohne ein Wort bretterte Waylon zur Waldgrenze, sprang aus seinem Wagen und lief den Berghang
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