Anatomie
befand sich keiner der sonst üblichen Grasstreifen in der Mitte, ein Zeichen für viel Verkehr oder regelmäßiges Planieren.
»Das ist eine gute Straße. Wird sie vom County unterhalten?«, fragte ich bemüht beiläufig.
Er wandte mir seinen bärenartigen Kopf zu. Vielleicht hatte ich nicht ganz so beiläufig geklungen, wie ich es beabsichtigt hatte. »Nein«, sagte er. »Das hier ist so was wie ’ne private Zufahrt.« Nach einem Augenblick hörte ich ein tiefes, polterndes Grollen, das das ganze Fahrzeug erschütterte. Ich warf meinem Beifahrer einen Blick zu und sah, dass er kicherte. »Private Zufahrt«, murmelte er noch einmal und kicherte noch ein bisschen über seinen Witz. Dann schenkte er mir ein entzücktes, zahnlöchriges Lächeln. Gütiger Himmel, wo bin ich hier nur reingeraten?, dachte ich kopfschüttelnd. Dann musste ich angesichts der absurden Situation selbst kichern.
Doch das Kichern blieb mir einen Augenblick später im Hals stecken, als der große Mann sagte: »Halten Sie hier, Doc.« Ich erstarrte, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Die Welt schien zu schrumpfen, bis nichts übrig blieb als ein grüner Tunnel, ein grauer Schotterweg und ein Lenkrad, um das sich verkrampft zwei Hände klammerten, die meine eigenen sein konnten oder auch nicht. Von irgendwo griff eine andere Hand herüber und drehte den Zündschlüssel. Das Auto hielt, und das Einzige, was ich hörte, war das Knirschen der Reifen auf dem Schotter und das Rauschen des Bluts in meinem Kopf. Dann verstummten auch diese Geräusche, und der grüne Tunnel wurde schwarz.
Als ich aufwachte, fühlte ich mich seltsam eingezwängt. Die Luft war dumpf und heiß und stickig, der Sauerstoff verbraucht, doch meine Arme wurden von einer Brise gekühlt. Verschwommene Lichtpunkte durchdrangen die Dunkelheit. Als meine Augen sich daran gewöhnt hatten und instinktiv nach einer abgegrenzten Form suchten, wurden die Lichtpunkte schärfer und erwiesen sich als Myriaden winziger Flecken taghellen Himmels, betrachtet durch ein Gewebe. Allmählich konnte ich mich auch wieder konzentrieren und erkannte den feuchten, scharfen Geruch von Schweiß. Man hatte mir eine stinkende Baseballkappe im Tarnmuster stramm übers ganze Gesicht gezogen. Meine Arme zuckten hoch, um sie abzunehmen, doch ich konnte mich nicht rühren. Ich riss an meinen Fesseln und warf den Kopf hin und her.
»Ganz ruhig, Doc, so tun Sie sich nur weh«, polterte die tiefe Stimme zu meiner Linken. »Wir sind bald da, also sitzen Sie noch eine Minute still. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich tue Ihnen nichts, und dabei bleibt es, aber es gibt da einiges, was Sie besser nicht sehen, falls Sie später jemand danach fragt.«
Ich ließ mich wieder in den Sitz plumpsen und hatte alle Mühe, meinen hektischen Atem zu beruhigen.
Das Auto hielt, und die Mütze wurde mir vom Gesicht gezogen. Ich schloss die Augen vor dem Licht, und als ich sie wieder aufschlug, beugte Waylon sich mit einem Jagdmesser über mich. Sicher und geschickt machte er sich mit dem Messer an dem – wie alles hier – mit einem Tarnmuster bedruckten Paketband zu schaffen, mit dem meine Hände an die Oberschenkel gefesselt waren.
»Tut mir leid, dass ich das tun musste«, sagte er. »Ich wollte nicht mit Ihnen kämpfen müssen, um Sie herzuschaffen. Das wäre nicht gesund gewesen für Sie, und Big Jim wäre auch nicht besonders glücklich gewesen mit mir.«
Big Jim? Ich konnte mir kaum vorstellen, wie riesig ein Mann sein musste, damit ein Koloss wie Waylon ihn als »Big« bezeichnete.
Er stieg aus dem Cherokee und kam um den Wagen herum, um mir die Tür zu öffnen, als wäre er kein Entführer, sondern ein hinterwäldlerischer Chauffeur. Ich rührte mich erst mal nicht, doch dann gab ich auf, stieg aus und folgte ihm.
Wir hatten auf einer kleinen grasbewachsenen Lichtung geparkt, auf allen Seiten umgeben von Kudzu, einer Kletterpflanze, die dafür berüchtigt war, Bäume, Scheunen, liegengebliebene Fahrzeuge und – man hatte mir geschworen, es sei wahr – gelegentlich sogar eine Kuh zu verschlingen, die mal eben ein Nickerchen machte. Am einen Ende der Lichtung stand ein verwittertes Bauernhaus, dessen Giebel und Veranda bereits mit der Schlingpflanze bewachsen waren. Weitere zähe Ranken streckten sich bereits nach dem Dach und der Rückseite des Hauses aus und hielten den Masten einer kleinen Satellitenschüssel umklammert. Als ich Waylon die Stufen hinauf folgte, trat er auf die Ranken, die am Boden der Veranda
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