Anatomie
Leichenwagenfahrer und zwei Deputys hievten den Sarg hinten in den Leichenwagen, und der kleine Konvoi fuhr zurück nach Knoxville – ein Leichenzug, der auf bizarre Weise rückwärts abgespult wurde.
16
Dr. Jess Carter hatte mir angeboten, bei der Obduktion dabei sein zu können, eine Einladung, die ich gerne annahm. Ich war nicht befugt, vor Gericht über pathologische Befunde auszusagen – also über die medizinischen Aspekte von Krankheiten und Verletzungen an Leichen, die in der Regel frischer waren als die, die ich normalerweise untersuchte –, doch ich nutzte jede sich bietende Gelegenheit, mehr darüber zu lernen. Schließlich war das, was Jess’ Arbeit von meiner unterschied nur wenige Tage – oder, unter Bedingungen extremer Hitze, auch nur wenige Stunden – mehr Verwesung oder, im Falle zerstückelter Leichen, ein paar Sägeschnitte. Je mehr ich also darüber wusste, wie man forensische Beweise in frischem Gewebe fand, desto besser war ich in der Lage, Beweise in nicht so frischem Gewebe zu erkennen. Abgesehen davon war Jess zum Schießen – witzig und respektlos, doch bitterernst, was die Qualität ihrer Arbeit anging. Sie hatte einen scharfen Geist, ein schnelles Skalpell und Adleraugen und bediente sich all dieser Gaben mit gleichem Geschick.
Ihr roter Porsche Carrera parkte bereits hinter dem Leichenschauhaus, als ich auf den Parkplatz fuhr, dicht gefolgt von dem Cadillac-Leichenwagen mit Ledbetters durchweichtem Sarg. Als der Leichenwagen rückwärts an die Laderampe fuhr, öffnete sich die Stahltür, und Jess kam im grünen Kittel heraus, gefolgt von Miranda, die ich seit dem Abend, als sie mich und Sarah beim Küssen erwischt hatte, nicht mehr gesehen hatte. Plötzlich war ich mir doch nicht mehr so sicher, ob ich bei dieser Obduktion dabei sein wollte.
Jess schaute auf, als ich näher kam, und ich winkte. »Hi«, rief ich ihr zu, »willkommen im Wespennest. Du bist ziemlich mutig, dass du dich in die Geschichte hineinziehen lässt.«
Sie zuckte die Achseln. »Oder ein bisschen beschränkt. Aber ich habe ja noch nie gern den sicheren Weg gewählt – der ist normalerweise ziemlich langweilig.« Sie schenkte mir ein Lächeln. Ein sehr angespanntes Lächeln, eng verwandt mit einer Grimasse. »Miranda hat mir erzählt, was du in letzter Zeit so treibst. Klingt, als hättest du auch reichlich Ärger am Hals.« Ich schaute Miranda an, deren Augen aufblitzten, als sie meinem Blick begegnete. Ich lief rot an und wandte mich zu dem Leichenwagen um. Warum brauchte der verdammte Fahrer so lange, um den verfluchten Sarg auszuladen?
Ich räusperte mich. »Also, ich habe im Augenblick gerade einen interessanten, ähm, Fall. Ich erzähle dir später davon. Jetzt würde ich mich erst mal gerne umziehen gehen, damit ich dich nicht aufhalte.« Mit diesen Worten floh ich ins Leichenschauhaus und schlich mich in die Sicherheit des Männerumkleideraums. Die Situation mit Miranda hatte ich eindeutig versaut. Was war ich nur für ein Idiot.
Als ich den Obduktionssaal betrat, Zuflucht hinter einer OP-Maske nehmend, war dort nur Jess, die sich, ein Skalpell in der Hand und eine Stirnlampe auf der Stirn, über die Leiche beugte. Der Sarg stand auf dem Boden neben einem Siphon, und immer noch sickerte Wasser oder sonst eine Flüssigkeit heraus. »Sieht aus, als wärst du heute mein Gehülfe«, sagte sie.
»Gehülfe?«
»Sektionsassistent. Altes Wort. Heißt eigentlich so viel wie ›Sklave‹. Nur damit du Bescheid weißt über die derzeitige Hackordnung.« Sie klang wütend, und sie sah noch wütender aus.
»Wo ist Miranda?«, fragte ich.
»Sie sagte, sie müsse einen Laborkurs unterrichten. Stimmt das? Oder möchte sie nur nicht hier sein?« Ihre Augen über der Maske funkelten.
»Ich … ich weiß nicht. Sie … könnte sein, dass sie nicht hier sein will.«
Sie knallte das Skalpell auf den Stahltisch. »Verdammt, Bill, das ist lächerlich und unprofessionell.«
»Du hast recht. Es tut mir leid. Ich schäme mich sehr.«
»Ich respektiere dich, und ich mag dich, aber das heißt nicht, dass ich eine Bedrohung für sie bin.«
»Ich weiß. Ich … hä?«
»Sie hat keinen Grund, mich nicht zu mögen.«
»Dich? Was meinst du damit?«
»Dieses … dieses Mädchen. Während du dir beim Umziehen reichlich Zeit gelassen hast, hat sie einen lautstarken Disput mit mir angefangen. Als wollte ich ihr den Freund wegschnappen oder so.« Wieder knallte sie das Skalpell auf den Metalltisch – anscheinend ging es
Weitere Kostenlose Bücher