Anatomie
erreicht war, tauchten ordentliche Kreise lockererer, aufgegrabener Erde auf. Mit dem schweren Gerät waren wir zehn Mal schneller – womit wir gleichzeitig unsere Geldgeber von der Smithsonian Institution erfreuten und Jahre später indianische Aktivisten entsetzten.
Auch die Spurensicherung baute auf diese Eigenschaft des Erdreichs. Statt ein ganzes Feld oder Waldstück umzugraben, in dem man eine vergrabene Leiche vermutete, stach der Kriminaltechniker mit einer T-förmigen Sonde – einem dünnen Eisenstab mit einem Griff am oberen Ende – in den Boden. Stieß die Sonde auf Widerstand, war die Erde wahrscheinlich unberührt, doch wenn sie leicht in den Boden eindrang, wusste der Kriminaltechniker, dass dort kürzlich jemand gegraben hatte. Eine technisch höher entwickelte Version der Erdsonde war das Bodenradar, zu dessen Verbesserung wir auf der Body Farm unseren Beitrag geleistet hatten: Ein erfahrener Polizist konnte, indem er einen Radarscanner über den Boden zog, die relative Dichte des Bodens bestimmen (indem er magnetische Kringel und Schnörkel las, die mir vollkommen willkürlich erschienen).
Der Bagger klapperte und ruckte, als er das Grab aufschaufelte, und der Erdhaufen neben dem Grab wuchs stetig. Schließlich verriet ein lautes Rumpeln und Kratzen uns, dass der Baggerführer die oberste Schicht des Betongewölbes erreicht hatte, das den Sarg selbst umschloss. Nach einigen weiteren Kratzern – die an meinen Nerven zerrten wie hundert lange Fingernägel, die über hundert Tafeln kratzten – hob er die Schaufel und kletterte von seiner Maschine herunter. Vom hinteren Teil seines schweren Geräts holte er zwei Stahlketten, klinkte vier Metallhaken in die Ringbolzen am Deckel des Gewölbes und zog die Kette über die Baggerschaufel. Sobald er wieder auf dem Führersitz saß, zog er die Kette an und hob den Betondeckel hoch, von dessen Rändern roter Lehm bröselte, während er langsam aus dem Grab schwebte. Der Baggerführer schwenkte den Deckel zu einer Seite und legte ihn auf dem feuchten Gras ab, wo er einen verirrten Strauß verblichener Plastikblumen zerdrückte.
»Doc, wie kommt es, dass Gräber überhaupt mit diesen riesigen Betondingern ausgekleidet sind?«, fragte DeVriess. »Kommt mir doch ziemlich sinnlos vor. Ich meine, die Leichen verwesen doch trotzdem, oder?«
»Klar«, sagte ich. »Aber die Menschen, also die Lebenden, auf die Beerdigungen, Särge und Friedhöfe eine tröstliche Wirkung entfalten sollen, denken nicht gern daran, also versuchen sie, es mit Einbalsamierungsflüssigkeit, korrosionsbeständigen Särgen und betonverstärkten Gräbern hinauszuzögern.« DeVriess verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf über so viel Narretei. Das gefiel mir nicht – diese selbstgefällig zur Schau gestellte Überlegenheit gefiel mir ganz und gar nicht –, also fuhr ich fort: »Sie finden das dumm?« Er nickte unverbindlich zur Seite. »Um Ihres Mandanten willen sollten Sie beten, dass dieses Gewölbe schön dicht war und der nicht sehr stabile Holzsarg trocken stand und der Bestattungsunternehmer nicht mit Einbalsamierungsflüssigkeit geknausert hat, was viele tun. Denn es könnte sein, dass dies das Einzige ist, was ihm den Hals und Ihnen den Fall rettet.« Meine Stimme war lauter geworden, während ich das sagte, und ich bemerkte, dass sich einige Köpfe nach uns umdrehten. Ich hielt den Mund und ging auf die andere Seite des Grabs.
Das Gewölbe hatte den größten Teil des Grundwassers abgehalten, aber nicht alles. Die Gummidichtung, die um den oberen Rand des Gewölbes lief, war wohl leicht verrutscht, denn eine kleine Schlaufe davon baumelte schlammverschmiert ins Gewölbe und verriet, wo die Versiegelung nicht dicht gewesen war. Ein glitschiger, mehrere Zentimeter tiefer Graben umgab den Sarg, der sich durch das Nachbeben der Baggerstöße noch leicht hin und her bewegte. Unsicher auf dem betonierten Rand hockend, zwängte der Totengräber gewebte Gurte unter die Enden des Sargs und schob sie gut dreißig Zentimeter darunter, wie Zahnseide, die um einen riesigen Zahn gezogen wird. Nachdem er die Gurte an der Baggerschaufel befestigt hatte, hob er den Sarg aus dem Grab, genau wie vorher den Deckel des Gewölbes. Aus einer Ecke des Sargs tropfte eine übelriechende graue Brühe. Es sickerte noch, als der Sarg schon auf dem Boden stand, und ich war froh, dass ich nicht angeboten hatte, den Sarg in meinem Wagen zurück ins Leichenschauhaus zu fahren. Der Totengräber, der
Weitere Kostenlose Bücher