Anatomie
also weiß ich nicht, wie es ist, Witwer zu sein. Aber sie ist tot. Wir sind nicht tot, und du auch nicht. Als hör auf, so zu tun, als wärst du es.«
In meinen Schläfen pochte das Blut, und alles verschwamm mir vor den Augen. Wie benommen starrte ich auf den Hörer, und dann bewegte ich ihn langsam vom Ohr weg.
»Dad? Dad!« Seine Stimme wurde leiser. »Dad, leg nicht auf. Bitte, leg nicht auf.«
Gott möge mir verzeihen, aber ich legte auf.
Und dann saß ich allein in meiner leeren Küche – einem Raum, der mehr an meinen Nerven zerrte als das Leichenschauhaus – und überlegte: Wie war das passiert? Wie hatte meine Familie – einst meine größte Freude – zu meinem größten Kummer werden können? Kathleen war fast gestorben, um mir Jeff zu schenken, und doch behandelte ich ihn wie einen Fluch statt wie ein Geschenk. Ich wusste, dass es ihr das Herz brechen würde, wenn sie das sehen könnte, doch obwohl ich mich schämte, schien ich unserem Sohn mein Herz nicht öffnen zu können.
Nach Kathleens Tod hatte mir ein wohlmeinender Freund ein Exemplar von Der Prophet gegeben, ein Buch mit Essays von Khalil Gibran. Ich hatte noch nie hineingeschaut. Jetzt holte ich es zum ersten Mal aus dem Regal und schlug es bei einem Kapitel auf, das mit einem purpurroten Lesebändchen gezeichnet war. Es war »Von der Freude und dem Leid« überschrieben.
Zitternd las ich: »Wenn ihr fröhlich seid, schaut tief in eure Herzen, und ihr werdet finden, dass nur das, was euch Leid bereitet hat, euch auch Freude gibt. Wenn ihr traurig seid, schaut wieder in eure Herzen, und ihr werdet sehen, dass die Wahrheit um das weint, was euch Vergnügen bereitet hat … Sie sind untrennbar. Sie kommen zusammen, und wenn einer alleine mit euch am Tisch sitzt, denkt daran, dass der andere auf eurem Bett schläft.«
Ich dachte an Jeff und daran, welche Mühe wir gehabt hatten, ihn zu zeugen, und auch, wie dankbar wir waren, als er die schwierige Geburt überlebte. Er und sie – beide zusammen – waren meine Freude gewesen, und es war mir nicht gelungen, ihn von der Trauer zu trennen, die mich überwältigte, als sie starb.
»Je tiefer sich das Leid in euer Sein eingräbt, desto mehr Freude könnt ihr fassen«, las ich weiter.
Wenn das stimmt, dachte ich, dann muss ich Platz machen für verdammt viel Freude.
15
Ich kam eine halbe Stunde zu früh zu Billy Ray Ledbetters Exhumierung, obwohl der Friedhof in Morgan County lag, gut sechzig Kilometer auf einer zweispurigen Straße nordwestlich von Knoxville, am Rand der Cumberland Mountains.
Die Menschen im Cooke County zapften die Appalachen an für Ginseng, schwarzgebrannten Alkohol und Marihuana. Die Menschen in den Cumberland Mountains – einschließlich der, die in der Kreisstadt Wartburg lebten – rissen die Berge selbst auf, bauten im Tagebau minderwertige Kohle ab und hinterließen verstümmelte Bergrücken und mit Schutt und Säure verdreckte Flüsse.
Auch Billy Ray hatte eine Mine betrieben – illegal –, bis das Bergamt sie entdeckt und geschlossen hatte. Danach hatte er Lebensmittelgutscheine und Sozialhilfeschecks geschürft und das meiste von dem, was er bekam, in schummrigen Rasthäusern aus Schlackenbetonsteinen ausgegeben. In einem solchen Rasthaus hatten er und sein Freund Eddie Meacham die Fäuste gegen ein halbes Dutzend hartgesottener Motorradfahrer gehoben. Pech für Meacham war, dass Billy Ray die Rempelei um achtzehn Tage überlebt hatte – bis zu dem Tag, an dem Billy Ray nach Knoxville trampte, um Eddie zu bitten, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Er schaffte es, Eddie zufolge, nicht mehr lebend bis dorthin, denn als er in Meachams Wohnung taumelte, kippte er prompt um, stürzte mit dem Kopf auf einen gläsernen Couchtisch und verschied. Das zumindest war die Geschichte, die Meacham erzählte, und das war die Geschichte, von der Burt DeVriess hoffte, dass die Exhumierung und erneute Untersuchung der Leiche sie erhärten würde.
Am Eingang zum Friedhof stand ein frisch polierter schwarzer Leichenwagen, dessen getönte Scheiben im Takt der Rockmusik bebten, die so laut war, dass sie Tote wecken konnte. Daneben parkte ein Caterpillar-Schaufelbagger in einem zweifarbigen Farbschema aus Gelb und Rost. Aus der Fahrerkabine des Baggers flehte Tammy Wynette mich an, zu meinem Mann zu halten. Ich überlegte, ob jemals jemand zu dem armen Kerl gehalten hatte, dessen ewige Ruhe wir gleich so unhöflich stören würden.
Indianer und New-Age-Anhänger finden es
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