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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
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schnitt die Wunde oben und unten vorsichtig ein, um sie leicht zu weiten, dann öffnete sie sie mit Hilfe eines Spreizers. Tief in dem verwesenden Fleisch schimmerte trüb etwas. Jess fasste mit einer Pinzette hinein, packte zu, zog und wackelte vorsichtig hin und her, um das Objekt aus dem Gewebe zu lösen. »Komm zu Mama«, murmelte sie, während sie es befreite. »Heureka.« Es war eine Glasscherbe, sechs bis sieben Millimeter dick und fünf Zentimeter lang. Das Ende, das sie mit der Pinzette hielt, war vielleicht zweieinhalb Zentimeter breit; das Stück verjüngte sich über seine fünf Zentimeter Länge zu einer bösen Spitze. »Das hat sicher wehgetan«, sagte sie.
    »Meacham hat gesagt, Ledbetter sei auf einen gläsernen Couchtisch gestürzt, als er zusammenbrach. Das muss ein Stück davon sein. Kann ihn das umgebracht haben?«
    »Ich wüsste nicht, wie – jedenfalls nicht an dieser Stelle. Die Scherbe steckte zur Gänze im Rückenstrecker, das ist die wichtigste Muskelgruppe des unteren Rückens. Es ist zwar eine schlimme Stichwunde, aber die Scherbe hat keine größeren Blutgefäße durchtrennt. Er wäre trotzdem irgendwann verblutet oder an einer Infektion gestorben, aber das war nicht die Todesursache. Die hat Dr. Hamilton bei aller Schlampigkeit doch richtig bestimmt: Er ist an einer pulmonalen Blutung gestorben. Was er vollkommen falsch interpretiert hat, war der Grund und der Zeitpunkt der Blutung. Diese Glasscherbe war nur das Tüpfelchen auf dem i. Es könnte sogar sein, dass der Typ schon oder beinahe tot war, als er auf den Couchtisch stürzte.«
    »Dann gibt es keinen Beweis für eine Stichverletzung durch ein Messer, Jess?«
    »Nun, man weiß nie. Vielleicht hat der Typ ihn erstochen und dann das hier reingesteckt, um seine Spuren zu verwischen. Klingt weit hergeholt, aber ich gerate ab und an immer noch ins Staunen. Du solltest nach Verletzungsspuren durch ein Messer an den Knochen schauen, oder?«
    Ich nickte. »Ja. Und ich wollte mich nicht vor der Arbeit drücken. Ich wollte nur versuchen, das zu begreifen, was wir hier sehen.«
    Sie schloss ihr Diktat mit der sachlichen Bemerkung, dass die Überreste zur weiteren Untersuchung an den forensischen Anthropologen William Brockton von der University of Tennessee übergeben worden seien, um festzustellen, ob die Wirbelsäule oder die Rippen Verletzungen erlitten hätten, dann schaltete sie das Diktiergerät aus. »Bill, soll ich dir ein bisschen Zeit sparen?«
    Ich war mir nicht sicher, worauf sie hinauswollte. »Was meinst du damit?«, fragte ich. Sie griff auf der rechten Seite des Instrumententabletts nach einem langen Messer mit gerader Schneide, das insgesamt gut fünfundvierzig Zentimeter maß. Ich erinnerte mich vage, seinen Zwilling eines Morgens in einer Panera-Bread-Filiale gesehen zu haben, wo ein Bäcker damit sicher und geschickt ein Rosinenbrot in perfekte Scheiben geschnitten hatte. »Sieht aus wie irgendein Küchenmesser«, sagte ich.
    »Oh, bitte«, sagte sie. »Das hier ist ein hochspezialisiertes Werkzeug mit einem korrekten medizinischen Namen: Brotmesser.« Sie streckte den Arm aus und zog ihn dann rasch zurück, und plötzlich waren die Beine und das Becken der Leiche durch eine klare, schmale Lücke vom Oberkörper getrennt. Die dreißig Millimeter dicke Bandscheibe zwischen dem zwölften Brustwirbel und dem ersten Lendenwirbel hatte sie ordentlich in zwei Hälften geteilt.
    »Wow«, sagte ich. »Erinnere mich daran, dich bloß nie zur Weißglut zu treiben.«
    »Treib mich bloß nie zur Weißglut«, ermahnte sie mich. »Ich hoffe ja immer noch, dass irgendein Scheißkerl nachts mal versucht, mich auf dem Krankenhausparkplatz auszurauben, aber es passiert einfach nicht.«
    »Zu schade«, bemitleidete ich sie. »Aber gib die Hoffnung nicht auf. Du bist viel zu jung und zu schön, um dich von den Enttäuschungen des Lebens verbittern zu lassen.«
    »Danke.«
    »Sag, glaubst du, du könntest das noch mal machen, hier zwischen Brust- und Halswirbelsäule?«
    »Na, ich weiß nicht«, sagte sie, »könnte ja auch reines Anfängerglück gewesen sein.« Ich zog meinen Finger zurück, nur einen Sekundenbruchteil, bevor das Messer erneut aufblitzte und der Kopf sich von den Schultern löste. »Zwei in Folge, sieh mal einer an.« Jess spülte das Messer ab, rieb es trocken und machte sich daran, sich aus ihrem grünen Kittel und den Papierstiefeln zu schälen. Darunter trug sie eine schwarze Jeans, eine blaue Seidenbluse und

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