Anatomie
Knochenkundekurs für Fortgeschrittene legte ich gerne einige Knochen in eine sogenannte »Blackbox«. Die Kiste war so gebaut, dass die Studenten hineingreifen und die Knochen abtasten, sie jedoch nicht sehen konnten. Dahinter steckte die Idee, dass es wichtig war, die Knochen nicht nur durchs Anschauen, sondern auch durch Ertasten kennen zu lernen. Ich erinnerte mich noch an den Kurs an einem Aprilmorgen – dem 1. April 1994 –, als es Steve irgendwie gelungen war, ein Paar Handschellen in meine Blackbox zu schmuggeln. Bei der ersten Studentin, die hineinlangte – einer attraktiven jungen Frau, der Steve die Kiste mit gespielter Galanterie reichte –, schnappten die Dinger sofort zu. Um sie zu befreien, mussten wir die Ecken der hölzernen Kiste aufschrauben. Als er die Handschellen aufschloss, fragte Steve sie, ob sie mit ihm ausgehen würde; zwei Jahre später haben sie geheiratet. Ich erkundige mich einmal im Jahr oder so nach den aktuellen Neuigkeiten – sie haben inzwischen drei Kinder –, wenn ich Steve in einem Gerichtssaal oder an einem Tatort über den Weg laufe. Und ich habe außerdem den leisen Verdacht, dass mein Osteologiekurs nicht die einzige Gelegenheit war, bei der die Handschellen in der Beziehung der beiden eine Rolle gespielt haben, aber ich traue mich nicht zu fragen. Womöglich würde er es mir tatsächlich erzählen.
Ich hatte meinen Dienstausweis als Sonderberater der Kriminalpolizei von Tennessee mitgebracht. Den hatte ich seit Jahren; der damalige leitende Gerichtsmediziner hatte ihn mir im Austausch für kostenlose wissenschaftliche Beratung ausgestellt. Jetzt fragte ich Steve, ob ich ihn dem Wachmann am Kontrollpunkt zeigen sollte. »Wenn Sie sich dann besser fühlen«, sagte er. Mir fiel auf, dass Steve seine Dienstmarke nicht am Gürtel trug wie normalerweise; stattdessen trug er ein laminiertes Plastikkärtchen am Hemd, auf dem sein Foto und sein Namen prangten. »Die Leute von der Bundesbehörde sind nicht besonders beeindruckt von Ausweisen der Kriminalpolizei. Ich glaube sogar, dass ein Wachmann mal gelacht hat, als ich ihm meinen gezeigt habe.« Nachdem ich meine Taschen geleert hatte und durch den Metalldetektor gegangen war, reichte ich dem Wachmann meinen Führerschein, den er eine ganze Weile eindringlich musterte und das Bild mit mir verglich. Als er überzeugt war, dass ich tatsächlich der war, der zu sein ich – unterstützt von dem Beamten der Kriminalpolizei – behauptete, winkte er mich durch. Steve führte mich zu einem Aufzug.
»Und warum treffen wir uns im Federal Building?«, fragte ich, als die Aufzugtüren sich hinter uns geschlossen hatten. »Das letzte Mal, als ich dorthin musste, war die Dienststelle der Kriminalpolizei im Norden der Stadt.«
»Das ist sie noch. Aber wir sind nicht die Einzigen, die sich für die Angelegenheit hier interessieren.« Er schien das nicht weiter ausführen zu wollen, also beließ ich es vorerst dabei.
Die Aufzugtüren öffneten sich im fünften Stock gegenüber einem großen FBI-Emblem. Steve führte mich zu einer Empfangsdame, die hinter kugelsicherem Glas saß wie die Kassiererin eines Lebensmittelladens in einem gefährlichen Viertel. Sie schob ein Formular durch den schmalen Schlitz am unteren Ende der Scheibe, und sobald ich unterzeichnet hatte, betätigte sie den Summer zu einem labyrinthischen Gewirr aus Büros, das die ganze Etage einnahm. Nachdem wir mehrmals links und rechts abgebogen waren, betraten wir ein Konferenzzimmer, in dem rund ein halbes Dutzend Beamte der Strafvollstreckungsbehörden des Bundes und des Landes saßen – das schloss ich aus ihren dunklen Anzügen, ihren ernsten Krawatten und ihren konservativen Haarschnitten. Sie saßen um einen Eichentisch, der eines König Arthur würdig gewesen wäre. Steve stellte sie rasch vor; einen der FBI-Beamten, Cole Billings, hatte ich bei einem forensischen Fall vor einigen Jahren mal kennen gelernt, doch die anderen beiden vom FBI, einen Mann und eine Frau, kannte ich nicht, ebenso wenig wie den Typ von der DEA, der Drogenstrafverfolgungsbehörde, und den zweiten Beamten der Kriminalpolizei, obwohl es mir so vorkam, als wäre ich ihm – Brian Rankin – schon einmal begegnet. Ich war eindeutig zu einem »Frühstück für Helden« geladen worden – der League of Justice.
Die FBI-Beamtin – Special Agent Angela Price – schien das Ganze zu leiten. »Dr. Brockton, lassen Sie mich zunächst betonen, wie sehr wir es zu schätzen wissen, dass Sie uns
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