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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Könnte man eine solche Amputation überleben? Shakespeares Figuren untersuchen die Frage genau. Shylock selbst würde die Operation durchführen – viele der besten Chirurgen und Anatomen der damaligen Zeit waren Juden. Aber wo würde er das Messer ansetzen? Anfangs wurde vereinbart, dass Shylock das Fleisch „schneiden dürfe / Aus welchem Teil von Eurem Leib ich will“. Vor Gericht stellt der mit der Lösung des Falles betraute „Doktor der Rechte“ (die verkleidete Portia) allerdings fest, es sei „zunächst am Herzen / Des Kaufmanns auszuschneiden“, wobei – was wohl schwierig wäre – zugleich Gnade walten solle.
    Shakespeare hat dieses Pfund Fleisch nicht erfunden. Es könnte ihm in einer der übersetzten italienischen Quellen oder indirekt durch den im nordumbrischen Dialekt geschriebenen Cursor Mundi untergekommen sein. In dieser Version gelobt der an den Hof einer Königin Ellen zitierte Jude, das Fleisch des Opfers auf die schmerzhafteste Art und Weise zu entnehmen, indem er Augen, Hände, Zunge und Nase abschneidet – „und so weiter, bis der Vertrag erfüllt ist“. Es war nicht unüblich, dass Richter zur Strafe für bestimmte Verbrechen Amputationen anordneten, und solche Praktiken mögen hier mit anklingen.
    Das Gewicht irgendeines Körperteils zu schätzen, ist gar nicht so leicht, weil jeder Teil meist nur mit dem Rest des Körpers zu haben ist. Trotzdem können wir uns ein Bild davon machen, wie viel ein Pfund Fleisch ist. Menschliches und tierisches Fleisch sind ungefähr gleich dicht, daher vermittelt ein Pfund Rindersteak uns einen angemessenen Eindruck. Deutlich wird das Gewicht auch, wenn man eine Hand in einen bis zum Rand vollen Wassereimer steckt, bis das verdrängte Wasser ein Pfund wiegt (Wasser ist ebenfalls ungefähr so dicht wie der menschliche Körper). Bei mir müsste das Messer ein paar Zentimeter oberhalb des Handgelenks angesetzt werden. Ein Pfund könnte aber auch der größte Teil eines Fußes sein. Von den Organen, mit denen ich in der Ruskin School zu tun hatte, kam das Herz dem verlangten Gewicht am nächsten. Ein seziertes Herz wiegt ungefähr 350 Gramm, ein bluttriefendes sogar ziemlich genau ein Pfund.
    Shylock darf sich aber nicht für das Herz entscheiden, höchstens für das Fleisch drum herum. Fleisch wird meistens durch das definiert, was es nicht ist. Es ist keines der Organe, die eine bestimmte Funktion erfüllen. Bei Tieren ist es meist der essbare Teil, nicht die Eingeweide. Fleisch ist auch nicht Knochen. Der biblische Ausdruck „Fleisch und Knochen“ beruht auf der Vorstellung, dass Fleisch weich ist. Der Ausdruck „Fleisch und Blut“, den Shakespeare in seinen Dramen häufig benutzt, unterstellt dagegen, dass das Fleisch im Gegensatz zum flüssigen Blut fest ist. Manchmal wird es als Synonym für die Haut gebraucht, aber Fleisch ist auch nicht Haut. Fleisch ist auch nicht Geist. In moralischen Stellungskriegen werden die beiden ständig gegeneinander aufgehetzt. Fleisch ist also der Großteil der Körpermasse und umfasst vor allem Muskeln und Blut. Fleisch besitzt Tiefe, man kann hineinschneiden. Wir stellen es uns dreidimensional vor. In seinem berühmten Essay Von den Menschenfressern zeichnet Montaigne ein lebendiges Bild von Völkern, die einen gefangenen Feind braten und dann „den Freunden, die nicht dabei waren“, Stücke seines Fleisches schicken.
    Welcher Teil von Antonios Anatomie dran glauben müsste, erfahren wir nie. Die schlaue Portia sieht sich den Vertrag an und erkennt, dass darin nur von einem Pfund Fleisch die Rede ist. Sie urteilt, dass Shylock es erhalten soll, sofern er dafür keinen Tropfen Christenblut vergießt und exakt ein Pfund nimmt und nicht das „Zwanzigstteil“ eines Skrupels mehr (ein Skrupel entspricht kaum mehr als einem Gramm).
    Das Urteil wirft nicht nur ein chirurgisches Problem auf, es ist auch ein moralisches Statement. Die Auslegung der Richterin hält sich an die biblische Unterscheidung zwischen Fleisch und Blut. Jüdischer Lehre zufolge ist das menschliche „Fleisch“ gleichbedeutend mit dem Körper (das hebräische Wort bâsâr meint beide). Andererseits sagt uns Levitikus: „Die Seele des Fleisches liegt im Blut.“ Der Unterschied ist offenbar erheblich. Wenn in der Bibel von „Fleisch und Blut“ zusammen die Rede ist, geht es meistens um Brand- und Tieropfer. Antonio muss Fleisch, aber kein Blut hergeben, woraus wir ersehen, dass er nicht auf brutale Art und Weise geopfert werden

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