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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Römische Reich und ins frühe Christentum gelangte, stellte bedeutsame Organe in den Mittelpunkt, vor allem Gehirn, Herz und Leber, die Kopf, Brust und Unterleib regulierten. Diese Teile wurden von den vier Säften (Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle) sowie von einer dünneren Flüssigkeit am Laufen gehalten, dem „Geist“, der für die Existenz der Seele verantwortlich war. Heute würden wir eine solche Betrachtungsweise vielleicht ganzheitlich nennen.
    Kurz bevor Vesalius in Paris sein Medizinstudium aufnahm, waren Galens Texte wiederentdeckt und in der französischen Hauptstadt gedruckt worden. Auch Vesalius bezog sich darauf und ließ sich beim Sezieren von Galen leiten, wagte es aber, der antiken Autorität zu widersprechen, wenn der Befund, wie er ihm vor Augen stand, mit Galens Ansichten nicht übereinzubringen war. Am Umgang mit dem sogenannten Wundernetz (rete mirabile) lässt sich der Einstellungswandel verdeutlichen. Das Wundernetz ist ein Geflecht von Arterien, das unter anderem bei Schafen und Affen das Gehirn umgibt. Galen glaubte, dass der Geist durch dieses Netz fließe, und die frühen Christen hielten es daher für das Verbindungsglied zwischen Körper und Seele. Vesalius sezierte zunächst einige Tiere und sah keinen Grund, Galen zu widersprechen. Aber als er während der Arbeit an der Fabrica in Padua Menschen sezierte, konnte er das Wundernetz nicht finden. Er stellte die Behauptung auf, dass der Mensch kein Wundernetz habe. Dieser Moment des Zweifels war nicht nur ein entscheidender Schritt für die anatomische Forschung, sondern für die moderne Naturwissenschaft überhaupt, denn von nun an galt das Wissen der alten Griechen zwar noch als wertvolle Grundlage, aber nicht mehr als verbindlich. Vesalius wollte seine Zeitgenossen und Lehrer allerdings nicht vor den Kopf stoßen undmachte erst in der zweiten Auflage der Fabrica, die 1555 erschien, auf den Fehler aufmerksam.
    Es ist kein Wunder, dass sich der medizinische Fortschritt in Grenzen hielt, solange anatomische Annahmen auf der Untersuchung von Tieren und nicht von Menschen beruhten. Vesalius kritisierte Galen zwar dafür, löste sich aber nicht völlig von dieser Praxis. In der Fabrica wollte er sich dem gesamten menschlichen Körper widmen, aber weil ihm nicht genug Leichen zur Verfügung standen, musste er sich teilweise auf frühere Publikationen und auf Untersuchungen an Tieren stützen. Als Erster beschrieb er die Prostata, doch war er, was das Fortpflanzungssystem angeht, nicht immer auf der Höhe. Seine Anatomie der Gebärmutter, die er offenbar „auf zweifelhaftem Wege von der Liebhaberin eines Mönchs“ erhielt, ist einigermaßen genau, doch über schwangere Frauen wusste er nicht besonders viel, weil es ihm an menschlichen Anschauungsobjekten mangelte. Peinlicherweise befindet sich auf der Abbildung des menschlichen Fötus die Plazenta eines Hundes.
    Die Fabrica ließ das Körperinnere wie das Binnenland eines neu entdeckten Kontinents erscheinen. Allerorten setzten anatomische Entdeckungsreisende die Segel und beanspruchten eine Gegend nach der anderen für sich, indem sie Körperteile wie Wasserwege und Inseln benannten. Vesalius’ Schüler Falloppio half aus, wo sein Lehrer nicht weiterwusste, und kartografierte das weibliche Fortpflanzungssystem. Wir haben schon gesehen, dass die Verbindungskanäle zwischen Gebärmutter und Eierstöcken nach ihm benannt sind – auch wenn sie schon lange vorher beschrieben worden waren. Mit Eustachi und dem Ohr verhält es sich genauso. Sogar Nicolaes Tulp ließ sich nicht lumpen: Die Ileozäkalklappe, die den Transport von verdautem Essen zwischen Dick- und Dünndarm regelt, heißt in einigen Sprachen „Tulps Klappe“.
    Einem bestimmten Körperteil einen Namen zu geben birgt auch Risiken. Es beruht auf der Annahme, dass der identifizierte Teil eine funktionale Einheit bildete, was nicht immer der Fall ist. Außerdem entsteht ein Körperbild, das von Trennungen und isolierten Organen geprägt ist. Natürlich haben die wichtigsten Organe jeweils ihre besonderen Qualitäten, aber sie sind mit anderen Körperteilen auch vielfach verbunden. Außerdem werden „Zwischenstücke“ wie das Zwerchfell, das Brust- und Bauchhöhle voneinander trennt, oft vernachlässigt, weil sie als selbstständige Einheiten nicht recht ins Gewicht fallen.
    Die Parzellierung des Körpers hatte jedoch auch Vorteile. Die reduktionistische Herangehensweise machte einen geordneten

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