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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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ob es sagen wollte: Na und, was ist schon dabei?
    Besonders sprechend sind die kleinen Einzelheiten. Man hat herausgefunden, dass die im Hintergrund des Vesalius-Porträts dargestellten Hügel sich in der Nähe von Padua befinden, wo Vesalius 1537, im außerordentlich jungen Alter von 23 Jahren, den Lehrstuhl für Chirurgie übernahm und die Anatomie zum Angelpunkt des Lehrplans an der wichtigsten medizinischen Unterrichtsanstalt Europas machte. Viele Illustrationen zeigen römische Ruinen und deuten so vielleicht an, dass Vesalius die Arbeit des griechischen Arztes und Anatomen Galen überwand, der im 2.

Jahrhundert n. Chr. in Rom tätig war und dessen Schriften die Medizin fast 1400 Jahre lang geprägt hatten.
    Auf einem anderen Holzschnitt sieht man ein Skelett von der Seite. Es ist jenes Bild mit der Hamlet-Pose: Die rechte Hand des Skeletts ruht auf einem Schädel, der auf einem Grab steht. Die Inschrift auf dem Grab lautet: „VIVITUR INGENIO CAETERA MORTIS ERUNT“. Der alte lateinische Aphorismus könnte unpersönlich zu verstehen sein: „Genie überlebt, der Rest gehört der Erde.“ Aber der Satz könnte sich auch auf Vesalius’ unbescheidene Hoffnung beziehen, dass sein Genie die Zeiten überdauern wird. Hinter dem Skelett befindet sich ein zurückgeschnittener Busch, aus dem neue Zweige treiben. Einerseits wird das Leben also zurückgestutzt, andererseits erneuert es sich. Das Motiv findet sich auf recht vielen Abbildungen.

    Die erste Illustration in dem Fabrica- Band, der sich mit den Muskeln beschäftigt, zeigt unter anderem zwei Putten, die einen reich illustrierten großen Anfangsbuchstaben umrahmen. Bei genauerer Betrachtung entpuppen sich die vermeintlichen Engel allerdings als Leichenräuber. Auf einer späteren, offenbar witzig gemeinten Illustration hängt das anatomische Subjekt wie ein Gehenkter an einem Seil, nur liegt ihm die Schlinge nicht um den Hals, sondern das Seil verläuft durch die Augenhöhlen und zieht den Kopf zurück, sodass der Betrachter die Halsmuskeln sehen kann. Wir erhalten nicht nur den Eindruck, dass die Zeiten schwer waren, sondern erahnen auch die Wege, auf denen Vesalius an seine Untersuchungsgegenstände kam. Er berichtet etwa, wie er von einem Galgen in der Nähe von Leuven (jener flämischen Universitätsstadt, in der er vor seinem Umzug nach Paris und Padua studierte) die Überreste eines Verbrechers stahl. Eines Tages ging er dort spazieren, „wo die Hingerichteten zum Nutzen der Studenten am Straßenrand ausgestellt werden“. Er bemerkte eine vertrocknete Leiche, an deren Fleisch sich die Vögel zu schaffen machten. „Daher lagen die Knochen frei. Sie wurden nur noch von den Bändern zusammengehalten, nur die Anfangs- und Endstücke der Muskeln waren noch erhalten.“ Mithilfe eines befreundeten Arztes erkletterte er den Pfahl und zog den Oberschenkelknochen aus der Hüfte. Außerdem entwendete er die Schulterblätter mitsamt Armen und Händen. Dies alles nahm er „heimlich“ mit nach Hause, wobei er mehrmals hin- und hergehen musste. Kopf und Rumpf musste er vorerst hängen lassen, sie waren mit einer Kette an dem Pfahl befestigt. Kurze Zeit später hielt er sich, als abends die Stadttore geschlossen wurden, noch vor der Stadt auf, um im Schutz der Dunkelheit den Rest des Körpers zu befreien. „Ich wollte diese Knochen unbedingt besitzen und erkletterte deshalb mitten in der Nacht allein und nur von all diesen Leichen umgeben unter großer Anstrengung denselben Pfahl, um das Objekt meiner Begierde an mich zu bringen.“ Unten versteckte er diese Knochen, um sie nach und nach ebenfalls nach Hause zu bringen und das komplette Knochengerüst in seinem Hinterzimmer wieder zusammenzusetzen. Was fehlte (eine Hand, ein Fuß und beide Kniescheiben), ersetzte er durch die entsprechenden Teile anderer Körper.
    Andries van Wesel, der den latinisierten Namen Andreas Vesalius annahm, wurde 1514 in Brüssel als Sohn eines Apothekers geboren und studierte an der Universität Paris Medizin. Durch die genaue Beobachtung revolutionierte er die anatomische Wissenschaft, die bis dahin von Galen, dem bedeutendsten medizinischen Gelehrtender Antike, geprägt war. Galen hatte seinerzeit das Wissen des Aristoteles und des Hippokrates nach Rom gebracht, wo er Leibarzt des Kaisers Marc Aurel wurde. Hippokrates gilt noch heute als Vater der Medizin als Wissenschaft, und zwar vor allem weil Galen sich auf ihn berief. Galens Verständnis des Körpers, das von Griechenland ins

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