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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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naturwissenschaftlichen Fortschritt möglich, der sich nicht mehr an symbolischen Modellen, sondern an tatsächlichen Funktionen orientierte. Dies brachte die Menschen allerdings auch auf einige verstörende Gedanken. So irritiert uns bis heute die Vorstellung, dass man den Körper komplett in seine Einzelteile zerlegen könnte – denn wo bliebe Platz für die Seele, an der uns doch viel liegt? Und lässt sich ein Körper dann nicht auch einfach zusammenbauen? Victor Frankenstein erschuf sein Monster aus Körperteilen, die er aus „Beinhäusern, Obduktionssälen und Schlachthöfen“ gestohlen hatte. Mary Shelley beschreibt den „elenden Teufel“ leider nicht sehr detailliert: „Seine Glieder waren ebenmäßig, und seine Züge hätten schön sein sollen. Schön! Großer Gott!“, berichtet Frankenstein. Doch sobald die schönen Einzelteile mit Leben erfüllt werden, erweist sich das Ganze als schrecklich seelenlos.
    Wer herausfinden will, wie der Körper funktioniert, tut gut daran, mit dem Herzen zu beginnen, dem beweglichsten aller Organe, dessen kräftige Muskeln die vielen beweglichen Teile antreiben. Was die Funktionsweise angeht, sind auch Vergleiche zwischen Menschen und Tieren eher angebracht als beim Körperbau. Ein wichtiges Werkzeug war deshalb die Vivisektion. Im antiken Alexandria war es üblich, Vivisektionen am Menschen vorzunehmen, doch die Kirche verbot diese Praxis. Nur Tiere durften weiterhin seziert werden. Wenn sich herausstellte, dass dasselbe Organ bei vielen verschiedenen Tierarten auf dieselbe Art und Weise reagierte, nahm man an, dass es auch beim Menschen so sei.
    Mitte der 1540er Jahre erarbeitete Realdo Colombo, Vesalius’ Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Padua, die erste genaue Beschreibung des Lungenkreislaufs, also des Bluttransports von einer Herzkammer durch die Lungen zur anderen. (Sehr viel später wurde bekannt, dass Ibn al-Nafis das alles in Damaskus schon 300 Jahre früher verstanden hatte.) Vesalius und andere glaubten zunächst mit Galen, dass das Blut direkt durch Poren von der einen Herzkammer in die andere fließt, obwohl niemand diese Poren je gesehen hatte. Colombos Obduktionen ergaben, dass das Blut die rechte Herzkammer verlässt und durch eine Arterie zur Lunge fließt und dass die Venen das Blut aus der Lunge in die linke Herzkammer zurücktransportieren. Diese Entdeckung belegt eindrucksvoll, wie sinnvoll es ist, die Organe nicht isoliert zu betrachten. Aristoteles hatte vermutet, dass das Blut in der linken Herzkammer kalt und das in der rechten warm sei. Colombo berichtigte ihn. (Heute wissen wir, dass das in die linke Herzkammer fließende Blut wärmer ist, weil es mehr Sauerstoff enthält, der mit Hämoglobin reagiert, sodass Wärme freigesetzt wird.) Colombo zeigte auch, dass es beim Herzen vor allem darauf ankommt, dass es sich kraftvoll zusammenzieht, um Blut herauszudrücken, und weniger auf die darauf folgende Entspannung.
    Nicht alle Experimente, die Colombo durchführte, waren wirklich sinnvoll. Besonders geschmacklos war eine öffentliche Vorführung, bei der er einen Welpen aus dem Bauch seiner schwangeren Mutter schnitt, ihn verletzte und ihn dann der Mutter vor die Nase hielt, die ihn ohne Rücksicht auf ihre eigenen Schmerzen liebevoll ableckte. Angeblich hätten sich vor allem die anwesenden Kleriker gefreut, da es zeige, wie stark die mütterliche Liebe selbst bei niederen Lebewesen sei.
    William Harvey knüpfte an Colombos Arbeiten an und beschrieb schließlich den vollständigen Blutkreislauf. Harvey, auch ein ehemaliger Student der medizinischen Schule in Padua, war der Leibarzt der englischen Könige James I. und Charles I. Letzterem widmete er 1628 sein Buch De Cordis, „Über die Bewegungen desHerzens und des Blutes bei den Tieren“. Im Widmungstext vergleicht er die Stellung des Herzens im Körper mit der des Königs in seinem Reich. „Da Ihr, verehrter König, an der Spitze aller menschlichen Dinge steht, werdet Ihr das Entscheidende am menschlichen Körper als Ebenbild Eurer königlichen Macht würdigen können“, schrieb er.
    Harvey pflegte seinen Studenten zu sagen, die Anatomie „bildet den Kopf, leitet die Hand und erzieht das Herz zu einer gewissen nötigen Unmenschlichkeit“. Der Historikerin Ruth Richardson zufolge ist diese „nötige Unmenschlichkeit“ das, was wir heute „emotionale Distanz“ nennen. Harvey litt daran keinen Mangel. Er obduzierte seinen eigenen Vater und vervollständigte sein Wissen über den

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