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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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vor allem gerade erst gewachsenen zweiten Zähnen von Kindern. Da diese Zähne gleich die richtige Größe besitzen, also nicht kleiner sind als die eines erwachsenen Mannes, empfahl er Mädchenzähne, da sie leichter einzusetzen waren. Aber selbst die passten nicht immer. Hunter ging dann so vor: „Am besten lässt man gleich mehrere Leute warten, deren Zähne dem Anschein nach passen könnten. Wenn es mit dem ersten nichts ist, dann vielleicht mit dem zweiten.“ Zahntransplantationen waren weit verbreitet, bis 1785 eine junge Frau starb und man herausfand, dass sie sich durch ein infiziertes Transplantat die Syphilis zugezogen hatte. In einer modernen Medizingeschichte heißt es: „Um die Ethik hat sich Hunter ganz offensichtlich nicht gekümmert.“
    Zweifellos würden die heutigen Ethikkommissionen den beidenHunters das Leben schwer machen. Wahr ist aber auch, dass sie sich auf dem Gebiet der Geburtshilfe wertvolle Verdienste erworben und das Leben vieler Kinder gerettet haben. Sie genießen weiterhin einen guten Ruf: Das Hunterian Museum and Gallery in Glasgow ist nach William Hunter benannt, das Museum des Royal College of Surgeons in London nach seinem Bruder John. Don Shelton vergleicht sie allerdings mit Nazi-Wissenschaftlern wie Josef Mengele, die in Auschwitz Experimente an KZ-Häftlingen durchführten. Deren Daten stehen der Wissenschaft weiterhin zur Verfügung, nur ist ihre Nutzung verpönt. Vorbehalte gibt es auch gegen einen anatomischen Atlas, der 1943 in Deutschland zum ersten Mal erschien und aus der Arbeit mit Körpern aus Konzentrationslagern hervorging. Sein Autor, Eduard Pernkopf, war ein überzeugter Nationalsozialist, und einige Künstler, die farbige Illustrationen beisteuerten, verzierten ihre Zeichnungen mit SS-Runen. Wie bei den Hunters wird das moralische Dilemma dadurch noch akuter, dass Pernkopfs Buch technisch hervorragend ist. Einige halten es für den besten anatomischen Atlas seit Vesalius. Eine überarbeitete Ausgabe mit neuen Zeichnungen ist weiterhin erhältlich. Die anstößigen SS-Runen wurden entfernt, außer an zwei Stellen, die der Aufmerksamkeit des Verlags anscheinend entgingen.
    In der Populärkultur ist kein Name so eng mit der Anatomie verbunden wie der Name Gray. Einige Männer haben sich im Lauf der Zeit in ihre Bücher verwandelt, man denke nur an den Duden, aber über kaum einen von ihnen ist so wenig bekannt wie über Henry Gray. Der Duden ist ein Standardwerk. Das Gleiche gilt für den Baedeker. Aber warum ist Grays Anatomy weltbekannt?
    Henry Gray wurde 1827 in London geboren, sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt. Über seine Kindheit und frühe Jugend wissen wir nichts. Sein Name taucht zum ersten Mal auf, als er sich im Alter von 15 Jahren in der medizinischen Ausbildungsanstalt am St George’s Hospital in der Nähe seines Elternhauses in Belgravia einschreibt. Er war zuvor nicht, wie üblich, bei einem Drogisten indie Lehre gegangen, sondern entschied sich offenbar schon in jungen Jahren für den Chirurgenberuf. Ein von einem Kommilitonen aufgenommenes Foto zeigt ihn mit hoher Stirn, welligem, dunklem Haar, kantigen Wangen und einem Mund, der sich wie bei der Mona Lisa an den Winkeln aufzulösen scheint. Aus dunklen Augen sieht er den Betrachter direkt an, seine dunklen Augenbrauen sitzen niedrig, sodass sie fast wie eine Kapuze wirken und ihm den Anschein eines romantischen Dichters verleihen. Gray zeigte bald, was in ihm steckt, und gewann wichtige Preise, darunter einen im Modefach Vergleichende Anatomie für den Vergleich der Sehnerven zahlreicher (essbarer) Tiere, die er ganz offensichtlich auf den Londoner Märkten zusammengekauft hatte. Einen weiteren Preis erhielt er für einen Essay über die Milz, den er 1854 als sein erstes Buch veröffentlichte. Es war kein Bestseller.
    Gray und sein Verleger ließen sich nicht unterkriegen und nahmen sich das größtmögliche Thema vor: den gesamten menschlichen Körper. Der Name Gray’s Anatomy führt etwas in die Irre, denn auch andere haben an dem Werk mitgewirkt. Wichtig sind vor allem die Zeichnungen eines gewissen Henry Vandyke Carter, der sich wenige Jahre nach Gray an derselben Schule einschrieb. Auch er wollte Chirurg werden und verdiente sich nebenbei etwas Geld mit zoologischen Illustrationen für den berühmten Naturforscher Richard Owen, weshalb Gray ihn für sein eigenes Buchprojekt anheuerte.
    1855 begann die Zusammenarbeit der beiden Männer, die inzwischen ausgebildete Chirurgen waren und

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