Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
Vom Netzwerk:
weiblichen Körper durch die umfassende Sektion seiner Schwester. Das zeigt, wie wenige Leichen für medizinische Experimente zur Verfügung standen. Heinrich VIII. hatte jedem Chirurgen durch ein königliches Dekret vier Leichen zugestanden, ein Jahrhundert später erhöhte Charles II. die Zahl auf gerade mal sechs.
    Dass ausgerechnet Harvey der Durchbruch gelang, hat etwas Überraschendes. Er war außerordentlich konservativ und empfahl zum Beispiel dem Schriftsteller John Aubrey als Quellen medizinischen Wissens Aristoteles und Avicenna, den persischen Philosophen des 11.

Jahrhunderts – die modischen Arschgeigen („shitt-breeches“) wie Vesalius solle er ignorieren. Glücklicherweise traute Harvey allerdings wie auch Vesalius seinen eigenen Augen. Bei seinen Untersuchungen der Herzen lebender Tiere erkannte er, dass sich die Klappen nur in eine Richtung öffnen, sodass das aus den Lungen ins Herz zurückfließende, sauerstoffreiche Blut nur über die Aorta wieder abfließen kann. Mit anderen Worten, es musste einen Blutkreislauf im Körper geben, der dem von Colombo zwischen Herz und Lungen entdeckten Kreislauf entsprach. Harvey konnte abmessen, wie viel Blut bei jedem Herzschlag in Bewegung gesetzt wird: etwa so viel, wie in ein Schnapsglas passt. Im menschlichen Körper befinden sich etwa fünf Liter Blut, also dauert es nuretwa eine Minute, bis die Gesamtmenge einmal durch das Herz geflossen ist. Es war ganz offensichtlich unmöglich, dass die Leber, die man für den Ort der Blutproduktion gehalten hatte, so viel Blut herstellte, und so schlussfolgerte Harvey, dass der besondere Saft noch derselbe war. Er interpretierte den Durchmesser der mit dem Herzen verbundenen Venen und Arterien als weiteren Hinweis darauf, dass große Mengen Blutes transportiert werden. Ein noch schlagendes Herz eines Tieres in der Hand haltend, spürte er, wie es sich jedes Mal verhärtete, wenn sich der kräftige Muskel zusammenzog.
    Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs sorgte für einige Verblüffung. In Übereinstimmung mit René Descartes, der den menschlichen Körper als Maschine beschrieben hatte, sahen viele das Herz nun als mechanische Pumpe an. Harvey widersprach dieser Interpretation. Ihn faszinierte, wie stimmig und rund alles schien, und er sah ältere, aus der Kosmologie stammende zyklische Vorstellungen bestätigt. Harveys Entdeckung war jedenfalls für die Chirurgie und alle anderen medizinischen Fächer von entscheidender Bedeutung, denn sie half zum Beispiel zu erklären, warum sich Krankheiten im Körper so schnell verbreiten – eine bis dahin schwer begreifliche Tatsache.
    Theoretisch hätten in Großbritannien mehr Leichen zur Verfügung stehen sollen, nachdem das Parlament 1752 ein Gesetz „zur besseren Vermeidung des schrecklichen Verbrechens des Mordes“ verabschiedet hatte. Darin wurde geregelt, dass die Leichen gehenkter Krimineller nicht nach christlichem Ritus begraben werden durften und dass ihre Sektion Teil der Strafe sein solle. Aber nicht einmal dieser Schritt konnte den wachsenden Appetit der Mediziner befriedigen. Als Edinburgh eine Blüte der Medizin erlebte, war die Nachfrage nach Körpern besonders groß. Auf dem Friedhof der Greyfriars-Kirche befinden sich heute noch sogenannte Mortsafes, käfigartige Eisengerüste, die ein Grab vor jenen Leichenräubern schützen sollten, die während des ganzen 18.

Jahrhunderts hier undin anderen britischen Städten die Friedhöfe unsicher machten. Für eine frische Leiche aus einem gerade erst verschlossenen Grab erhielten die Leichenräuber, die man auch Resurrektionisten nannte, gutes Geld. (Sie achteten darauf, nur den Körper und nicht etwa auch mitbegrabene Gegenstände an sich zu nehmen, um sich nicht des Diebstahls schuldig zu machen. Ein toter Körper gehörte niemandem, während alles andere immer noch das Eigentum der Erben war.)
    Aber nicht einmal die städtischen Friedhöfe Edinburghs enthielten genug Leichen. Zwischen November 1827 und Oktober 1828 ermordeten William Burke und William Hare, zwei Gelegenheitsarbeiter aus Ulster, mindestens sechzehn Menschen, um ihre Körper dem Anatomielehrer Dr. Robert Knox zu verkaufen. Die Körper durften nicht verstümmelt oder verletzt sein, daher wählten Burke und Hare Opfer aus, die leicht zu überwältigen waren. Sie füllten sie mit Whiskey ab, dann legte einer ihnen die Hand über Nase und Mund, während der andere sich auf den Körper warf, um Kampfspuren zu vermeiden. Für die besten

Weitere Kostenlose Bücher