Anatomien
Leichen gab Knox ihnen zehn Pfund.
Knox machte sein Beruf nicht wirklich Spaß. Das Innere des menschlichen Körpers empfand er als abstoßend und schmutzig. „Der menschliche Sinn versteht seine Form nicht, und er begehrt sie nicht“. Ständig stand ihm sein eigener Tod vor Augen. Das Äußere des Menschen war offenbar weniger unattraktiv. Burkes und Hares drittes Opfer war eine 18-jährige Prostituierte namens Mary Paterson, die Knox so schön fand, dass er darauf verzichtete, das Messer anzusetzen. Stattdessen verkehrte er die Geschichte von Pygmalion aufs Makaberste in ihr Gegenteil, legte sich den Körper schön zurecht und wies einen Künstler an, die junge Frau so zu zeichnen, als lebte sie noch. Drei Monate lang konservierte er den Körper in Whiskey, erst dann durften die Studenten ihre Künste an der Frau beweisen. Viele Jahre später veröffentlichte der inzwischen in Ungnade gefallene Knox sein Handbuch der künstlerischen Anatomie. Er erinnert sich darin an Mary Patersons vollkommenen Körper, der der Venus von Milo geglichen und an dessen Oberfläche nichts auf die Existenz der inneren Organe hingewiesen habe. Diese Definition menschlicher Schönheit ist, besonders für einen Chirurgen, eine erstaunliche Zurückweisung des wissenschaftlichen Zeitgeistes, den Körper als Summe seiner Teile zu betrachten.
Edinburgh war nicht groß, und bald fielen die Morde auf. Burke und Hare wurden beinahe überführt, als einige von Knox’ Studenten das fünfzehnte Opfer auf dem Seziertisch als den geistig behinderten James Wilson, den stadtbekannten „dummen Jamie“, identifizierten. Knox widersprach und begann die Unterrichtsstunde an jenem Tag ausnahmsweise damit, dass er der Leiche das Gesicht wegschnitt. Die Mörder wurden schließlich geschnappt, als man den Körper ihres letzten Opfers in ihrer Wohnung entdeckte, bevor sie ihn zu Knox bringen konnten. Hare entging der Todesstrafe, indem er gegen Burke aussagte, der wiederum, die Ironie der Geschichte, als einer der letzten Mörder Großbritanniens zu Tod und Sektion verurteilt wurde. Sein Skelett ist heute im medizinischen Museum der Universität Edinburgh zu besichtigen.
Burke und Hare sind für ihre Taten berüchtigt, aber eine frühere Begebenheit in der Geschichte der britischen Anatomie ist wohl noch gruseliger und führt uns bis in höchste Kreise des medizinischen Establishments. 1774 veröffentlichte William Hunter Die Anatomie der Gebärmutter bei Schwangeren, einen illustrierten Atlas des weiblichen Fortpflanzungssystems und der Entwicklung des Fötus. Das Buch stützte sich auf eine 25-jährige Forschungsarbeit und auf mindestens vierzehn Körper von Frauen, die während verschiedener Stadien der Schwangerschaft oder während der Geburt gestorben waren. Wie kam Hunter an diese Körper? Da hochschwangere Frauen seltener krank werden (oder Verbrechen begehen, für die sie gehenkt werden), gaben frische Gräber und der Galgen wenig her. Hunter schrieb: „Gelegenheiten, eine schwangere menschliche Gebärmutter in Ruhe zu sezieren, bieten sich nur selten.“ Nicht zuletzt deshalb sollte das Lehrbuch jungen Medizinstudenten die entsprechenden Einblicke vermitteln. Natürlich ist es nicht völligundenkbar, dass in einer bevölkerungsreichen Stadt wie London, wo Hunter arbeitete, im Lauf von mehr als zwei Jahrzehnten vierzehn Leichen auf legitime Weise den Weg auf Hunters Seziertisch gefunden haben. 2010 unterzog der Kunsthistoriker Don Shelton Hunters Anatomie allerdings einer statistischen Analyse, die ergab, dass Hunter mit mehr Frauen gearbeitet hatte, als er durch „zufällige Resurrektionen“ erhalten haben konnte, dass also eine gut organisierte Mordserie nötig war.
Der Verdacht fiel auf William Hunters jüngeren Bruder und Assistenten John, der sich später in verschiedenen medizinischen Fachrichtungen hervortat und als Vater der modernen Operationstechnik gilt. Wahrscheinlich war er der Erste, der das englische Wort „transplant“ mit Bezug auf menschliches Gewebe benutzte. Seine Experimente auf diesem Gebiet wirken heute wie eine geschmacklose Verirrung: Er verpflanzte Gewebe von einem Teil des Tieres an einen anderen, zum Beispiel einen Sporn vom Fuß auf den Kamm eines Hahns, oder von einem Tier aufs andere, manchmal sogar von einer Tierart auf die andere.
Im Rahmen anderer Experimente versuchte er, verfaulte Zähne seiner Patienten zu ersetzen. Einige Zähne erhielt er wohl von Leichenräubern. Besser ging es mit lebenden Zähnen,
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