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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Unterricht in ihrem Fach gaben. Gray war 28, Carter 24. Sie wollten eine neuartige Anatomie erarbeiten, die modern, klar und preisgünstig sein sollte. Sie arbeiteten eng, langfristig und nicht immer konfliktfrei zusammen. In weniger als zwei Jahren sezierten sie in Knightsbridge genug Körper für 360 Illustrationen. Wie sie an die Leichen kamen, ist nicht bekannt, da das Krankenhausarchiv für die entsprechenden Jahre nicht erhalten geblieben ist. Normalerweise bekamen Krankenhäuser damals die Körper derer, die in Armenhäusern oder zu Hause gestorben waren. Ihr Beitrag findet keine Anerkennung. Die Wissenschaftshistorikerin Ruth Richardson stellt fest: „Im Zentrum von Gray’s herrscht, wie auch in allen anderen Anatomiebüchern, das Schweigen. Etwas Unaussprechliches lauert dort, das die Anatomen nur würdigen, indem sie sich abwenden.“
    Die Beziehung der beiden Männer ist faszinierend. Carter erkannte früh, dass Gray der neue Star des Krankenhauses sein würde. Zuerst hielt er Gray und seine Freunde für „Snobs“, schon kurze Zeit später aber für „sehr schlau und fleißig“. Gray erklärte er zu einem „einzigartigen Arbeiter“ und „netten Kerl“. Als Gray den Astley-Cooper-Preis für seinen Aufsatz über die Milz erhielt, äußerte Carter, dass Gray „gute Männer“ ausgestochen habe. Er bewunderte und beneidete Gray, und in seinem Tagebuch beklagt er sich über Grays forsche Art, wohingegen er selbst stets mit Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen hätte. Auch zu Grays erstem Buch hatte er ein paar Zeichnungen beigesteuert, und er war enttäuscht, dass Gray seinen Namen nicht erwähnte. Die Anatomy war eigentlich als gleichrangiges Projekt gedacht, doch sie gründete, zumindest in Carters Wahrnehmung, auf einer „schäbigen“ Übereinkunft. Trotzdem machte er mit. Gray sollte für jeweils 1000 verkaufte Exemplare ein Honorar von 150 Pfund erhalten, während Carter mit einer Einmalzahlung von 150 Pfund abgespeist wurde. Als Gray auf den Druckfahnen sah, dass die beiden Namen auf der Titelseite gleich groß gesetzt waren, strich er Carters Namen durch und ordnete an, dass er kleiner zu sein hatte. In späteren Auflagen wurde er weiter verkleinert, und mit der 17. Auflage aus dem Jahre 1909 verschwand er gänzlich.
    Und so ist das Buch eben Gray’s Anatomy geworden. Die Worte stehen auf dem Buchrücken der ersten Auflage von 1858, obwohl der Titel eigentlich lautet: Anatomy Descriptive and Surgical. Der Verleger erhoffte sich, dass „Grays“ handlicher Band die altbekannten, mehrbändigen Anatomien („Quain’s“, „Wilson’s“ usw.) überflügeln würde. Und so kam es auch. Der Rezensent des Lancet schwärmte, es sei „wahrlich keine gewöhnliche Leistung, und seinAutor habe die höchsten Fertigkeiten als Anatom und Chirurg besitzen müssen, um es zu vollenden. Es gibt kein Werk in irgendeiner Sprache, das Anatomie und Chirurgie so einleuchtend und vollständig verbildlicht.“
    Gray machte sich einen Namen damit, die menschliche Anatomie für die Bedürfnisse der modernen Chirurgie aufzubereiten. Er konzentrierte sich auf das, was ein Chirurg bei einer Operation tatsächlich sah. Die Zeit war reif, denn große Operationen wurden sicherer und neue Betäubungsmittel traten ihren Siegeszug an – Königin Victoria nahm etwa während der Geburt von Prinz Leopold 1853 Chloroform. Grays Stil ist einfach und bodenständig, nachgerade unelegant, jedenfalls alles andere als großspurig. Von Carters Zeichnungen lässt sich dasselbe sagen. Sie sind ausgesprochen deutlich. Das liegt unter anderem an dem glücklichen Zufall, dass die Druckplatten für das Buchformat zu groß waren. Die althergebrachte Staffage von Vesalius und anderen herkömmlichen Anatomien entfiel, nicht zuletzt weil Carter nie eine Kunstschule von innen gesehen hatte. Zum Nutzen der Medizinstudenten stehen die Bezeichnungen der einzelnen Körperteile auf den Zeichnungen selbst. Der Kunsthistoriker Martin Kemp vergleicht Carters spröden Stil mit den Zeichnungen von Ingenieuren. Auf mich wirken sie wie der Katalog eines uralten Kaufmanns oder die Karte eines frühen Landvermessers.
    Nur drei Jahre nach Erscheinen seiner Anatomy starb Henry Gray in seinem Elternhaus, wo er gemeinsam mit seiner Mutter lebte, im Alter von 34 Jahren an einer Pockeninfektion. Er hatte sich bei seinem Neffen angesteckt. Sein Buch freilich lebt weiter. An der inzwischen 40. Auflage arbeiteten 85 redaktionelle Mitarbeiter und zwölf Illustratoren

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