Anatomien
Selbstkritik feststellen, zurewigen Suche der Naturwissenschaften „nach einer billigen Antwort auf die Frage, was die Schönheit denn nun ist“.
Attraktive Menschen haben nicht nur beim ersten Date einen Vorteil. Selbst in Bereichen, bei denen die Sexualität überhaupt keine Rolle spielt, kann Schönheit unser Urteilsvermögen beeinflussen. Gut aussehende Menschen werden zum Beispiel vor Gericht häufiger freigesprochen.
Aber verraten Gesichter auch etwas über unseren Charakter? Wenn Kriminelle an ihrem Äußeren erkennbar sind, wie Galton zeigen wollte, wie steht es dann mit der Tugend? Die Philosophen im antiken Griechenland glaubten, dass Gesicht und Charakter einander spiegeln. Von dieser Vorstellung ging die Physiognomik aus, die der Schweizer Pfarrer Johann Kaspar Lavater in den 1770er Jahren begründete. Lavater kategorisierte Ohren und Nasen und glaubte unter anderem, dass Menschen, die einem bestimmten Tier ähnlich sahen, auch einige seiner Eigenschaften besaßen. „Eine schöne Nase wird nie an einem schlechten Gesicht seyn“, verkündete er. „Man kann ein häßliches Gesicht haben und zierliche Augen. Aber nicht eine schöne Nase und ein häßliches Gesicht.“ Lavaters eigene Nase war groß und sah im Profil dreieckig aus. Was das für sein Selbstwertgefühl bedeutete, können wir uns denken.
Vor allem suchte Lavater nach dem Angesicht Christi. Sein Anblick allein, glaubte er, werde eine göttliche Offenbarung sein. Außerdem besäße man dann den bestmöglichen Bezugspunkt: Je ähnlicher jemand Christus sähe, umso vorbildlicher wäre er. Die Schwierigkeit bestand darin, dass man vor der Wiederkehr des Herrn auf Darstellungen angewiesen sei, die von den subjektiven und zeitgebundenen Vorstellungen des Künstlers abhängig sind. Über das wirkliche Angesicht Christi haben sie uns nichts mitzuteilen. Es ist genauso gut denkbar, dass Christus wie ein Boxer oder ein Busfahrer aussieht und nicht wie der kalifornische Hippie, als der er so oft dargestellt wird.
Wie die Phrenologie ist die Physiognomik inzwischen als Wissenschaft diskreditiert. Ihre einzigen Anhänger dürften die vielen Autoren sein, die das Aussehen ihrer Figuren so beschreiben, dass wir darin deren Verhalten und Persönlichkeit erkennen können. Charles Dickens schreibt über seinen berüchtigten Geizkragen Ebenezer Scrooge: „Die Kälte in seinem Herzen machte seine alten Gesichtszüge starr, seine spitze Nase noch spitzer, sein Gesicht runzlig, seinen Gang steif, seine Augen rot, seine dünnen Lippen blau, und sie klang aus seiner krächzenden Stimme heraus.“ Das Äußere von Gwendolen Harleth mit ihrem „selbstgefälligen Mund“ und den Schlangenaugen beschreibt George Eliot im Eingangskapitel von Daniel Deronda ausführlich, um ihr späteres intrigantes Verhalten gleich zu Anfang anzudeuten. In den Augen des unsympathischen Keith Talent in Martin Amis’ London Fields leuchten „die ungeheuren Zugeständnisse, die er an das Geld gemacht hat“, und sie enthalten „Blut genug“ für einen Mord. Millionen Leser wissen solche Beschreibungen zu schätzen.
Möglicherweise angeregt durch Galtons abfällige Bemerkungen über die Frauen von Aberdeen haben schottische Psychologen in jüngster Zeit unsere Wahrnehmung menschlicher Gesichter genauer untersucht. Wissenschaftler können Bilder von Gesichtern mithilfe von Computerprogrammen viel besser manipulieren als Galton mit seinen Münzen und Zusammensetzungen. In einem besonders eindrucksvollen Projekt bearbeiteten Rachel Edwards und ihr Team an der University of St. Andrews eine Darstellung von Elisabeth I. so, dass man dachte, sie benutzte moderne Kosmetika. Die bekannte alabasterfarbene Grundschicht, die in Wirklichkeit eine giftige, weiße Bleipaste war, wurde durch eine leichte Bräune und etwas Rouge ersetzt. Mit einem Mal trat die sagenhafte Schönheit der jungfräulichen Königin deutlich hervor. Die Studie bewies, wie sehr das Make-up unser Urteil über die äußerliche Schönheit eines Menschen beeinflusst.
Die allerneueste Forschung beschäftigt sich nicht mit der Schönheit, sondern mit der Erkennung von Gesichtern. Meist ist es wichtiger, einen Menschen wiederzuerkennen, als ein künstliches Idealzu konstruieren. Galton fand das auf unangenehme Art und Weise heraus, als er ein zusammengesetztes Foto zweier Schwestern an deren Vater schickte. „Ich bin Ihnen für das wunderliche und interessante Porträt meiner beiden Kinder außerordentlich dankbar“,
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