Anatomien
entgegengesetzten Prozess, der „analytischen Fotografie“: Er legte blasse Folien übereinander, und zwar das Positiv eines Porträts und das Negativ eines anderen, sodass sich die gemeinsamen Merkmale gegenseitigaufhoben und nur wichtige Unterschiede sichtbar blieben. Bei beiden Techniken kam es auf eine sorgfältige Vorbereitung an, zum Beispiel mussten beide Aufnahmen gleich groß und aus demselben Winkel aufgenommen sein, damit man sie vergleichen konnte. Galton verschaffte sich Zugang zu zahlreichen Gruppen, die sich durch einen ähnlichen Lebensweg oder die gleichen Geburtsumstände auszeichneten. Darunter waren „amerikanische Wissenschaftler, baptistische Pfarrer, Patienten im Bethlem Royal Hospital und im Hanwell Asylum, Privatleute, Kinder, Verbrecher und Familien in Chatham, Griechen und Römer, Flüchtlingskinder aus Leeds, Juden, Napoleon I. und Königin Victoria mit ihrer Familie, Phthisis-Patienten, Akademiker und Westminster-Schüler“. Die zusammengesetzten Bilder ließen keine eindeutigen Schlüsse zu. Aus heutiger Sicht sagt die Liste mehr über Galton und seine Zeit als über irgendeine Gruppe von Menschen aus.
Das Hauptergebnis der zusammengesetzten Fotografie war die enttäuschende Einsicht, dass sich erkennbare Gesichtsmerkmale umso mehr auflösen, je mehr Einzelbilder hinzukommen. Selbst die Verbrecher, für die sich Galton besonders interessierte, weil er die Arbeit der Polizei durch die Entdeckung eines bestimmten Gesichtstyps erleichtern wollte, sahen ziemlich harmlos aus, sobald mehrere Gesichter übereinander lagen.
In ästhetischer Hinsicht kam Galton zu einem überraschenden Ergebnis. Er beobachtete mehrmals, dass seine zusammengesetzten Fotografien besser aussahen als die jeweiligen Einzelbilder. Die Verbrecher sahen weniger verbrecherisch aus, die Kranken weniger krank usw. Und wer gut aussah, sah noch besser aus, wie Galton herausfand, nachdem er im Britischen Museum Porträts auf antiken Münzen und Medaillen fotografiert hatte. In einem Fall extrahierte er „eine einmalig schöne Kombination der Gesichter von sechs verschiedenen römischen Damen, die sich zu einem anmutigen Idealprofil verbanden“. Das zusammengesetzte Gesicht ist beeindruckend: starke, gerade Nase, ein hervorstehendes Kinn und eine gewisse Festigkeit der Oberlippe. Bei seiner Suche nach derSchönheit berücksichtigte Galton natürlich auch den Kopf der Kleopatra auf den ägyptischen Münzen des Museums. Aus fünf Exemplaren setzte er ein Bild zusammen: „Wie auch sonst ist hier das zusammengesetzte Bild schöner als die Einzelteile, von denen keines ihre sagenhafte Schönheit einfängt. Ihre Gesichtszüge sind nicht nur unauffällig, sondern für den englischen Normalgeschmack sogar recht hässlich.“
Was sagt uns das über die Schönheit des menschlichen Gesichts? Galton zufolge liegt die Schönheit nicht im Auge des Betrachters, sondern ist zu einem gewissen Grad objektiv. Ein zusammengesetztes Gesicht, der Durchschnitt mehrerer Einzelgesichter, sei schöner als jedes einzelne Gesicht eines wirklichen Menschen. Und doch ist es im wahrsten Sinne des Wortes durchschnittlich. Ist die Schönheit also einfach fade? Oder ist die Lage sogar noch beklemmender: Ist nur ein von seiner Individualität gereinigtes Gesicht schön? Models müssen in ganz verschiedenen Kleidern gut aussehen können, und da ist ein normales Gesicht ein guter Anfang. 1990 griffen zwei amerikanische Psychologinnen, Judith Langlois und Lori Roggman an der University of Texas in Austin, Galtons Experiment wieder auf und stellten mithilfe von Computern hochwertige zusammengesetzte Bilder von Frauen und diesmal auch von Männern her. Sie konnten die Einzelbilder so genau übereinander legen, dass die Konturen nicht wie bei Galton verschwammen. Die Ergebnisse zeigten sie einer Jury, um nicht von ihren eigenen Vorlieben ausgehen zu müssen. Und die Jury bestätigte Galtons Erkenntnisse. Sowohl die zusammengesetzten Frauen als auch die Männer wurden jeweils als attraktiver beurteilt, und sie galten als umso schöner, je mehr Einzelbilder eingeflossen waren, da mehr und mehr „Mängel“ und Asymmetrien beseitigt wurden. Die Autorinnen stellten fest, dass ihre Untersuchungsergebnisse evolutionären Entwicklungen entsprechen, die uns dazu zwingen, Partner mit relativ durchschnittlichen Merkmalen auszuwählen. Diese wirklich besonders unromantische Schlussfolgerung passt, wie Langlois und Roggman beinahe kleinlaut und mit gehöriger
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