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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Leistungsfähigere Computer brachten Verbesserungen mit sich. Das von John Shepherd, einem Psychologen an der Universität Aberdeen, entwickelte E-fit-System greift auf eine Datenbank mit Abbildungen vollständiger Gesichter zurück, die gemäß den Anweisungen eines Zeugen bearbeitet werden können, bis sie dessen Erinnerung entsprechen. Das System trat seinen Siegeszug an, als der Londoner Serienmörder Colin Ireland sich im Juli 1993 der Polizei stellte, nachdem er erkannt hatte, wie sehr ihm das von E-fit produzierte Fahndungsbild ähnelte.
    Neuere Entwicklungen berücksichtigen, dass wir Gesichter als Ganzes wahrnehmen. Das an der Universität Stirling entwickelte Evo-fit-System legt Zeugen jeweils sechs Abbildungen wirklicher Gesichter zur Auswahl vor. Zunächst wird es dem Verdächtigen vielleicht kaum ähnlich sehen, aber der Vorgang wird mehrmals wiederholt, bis aus der Auswahlprozedur ein angemessenes Bild hervorgeht. Dabei kann der Zeuge sich weiterhin an hervorstechenden Merkmalen orientieren, aber gleichzeitig den Gesamteindruck in Betracht ziehen.
    Viele Justizirrtümer beruhen darauf, dass Ähnlichkeiten zu falschen Identitätszuschreibungen führen. Ein Großteil der schottischen Forschung wurde vom britischen Innenministerium angeregt, nachdem ein Untersuchungsausschuss der Regierung 1976 zahlreiche Fälle gerügt hatte, bei denen Gerichte sich von visuellen Identifikationen in die Irre führen ließen. Es mag sein, dass sich ein Gesicht tatsächlich in unser Gedächtnis brennt. Doch kann schon diekleinste Veränderung dieses Gesichts, eine Rasur, ein Sonnenbrand, eine neue Frisur oder auch nur ein neuer Blickwinkel, aus dem wir es wahrnehmen, uns das Wiedererkennen erschweren. Mit anderen Worten, wir erinnern uns an Bilder , stillgestellte Augenblicke, aber wir erkennen Menschen .
    Jedenfalls denken wir das. Am 18.

Oktober 1997 wurde ein seit drei Jahren vermisster Junge wieder mit seiner texanischen Familie zusammengebracht, nachdem er in einem Jugendheim in Spanien gefunden worden war. Am Flughafen von San Antonio wurde „Nicholas“ von seiner Schwester und anderen Verwandten umarmt und unter Tränen begrüßt. Nur seine Mutter war zurückhaltender. In den folgenden Wochen kehrte der Junge in seinen Alltag zurück, ging zur Schule und erinnerte sich an Ereignisse aus der Familiengeschichte. Der eine oder andere meinte, da stimme etwas nicht, aber die Einwanderungsbehörden versicherten, dass alles seine Richtigkeit habe. Im März 1998, fünf Monate nach Ankunft des Jungen, äußerte die Mutter schließlich ihren Verdacht, dass er ein Betrüger sei, und die schlimme Wahrheit wurde aufgedeckt. Der 16 Jahre alte Amerikaner „Nicholas“ war in Wirklichkeit Frédéric Bourdin, ein 23 Jahre alter Franzose mit gefärbten Haaren und der ausgeprägten Fähigkeit, sich Einzelheiten aus dem Leben anderer Menschen zu merken. Er wurde wegen Meineides und des Besitzes gefälschter Dokumente zu sechs Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung nahm er seine Karriere als Identitätsbetrüger wieder auf, bis er 2005 wieder geschnappt wurde, nachdem er sich, diesmal in Frankreich, als spanisches Waisenkind Francisco ausgegeben hatte. Der wahre Nicholas wurde nie gefunden.
    Eine Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass wir genau der sind, der wir zu sein scheinen. Nicht nur Lavater und Galton möchten, dass Christus tugendhaft und ein Verbrecher gemein aussieht. Wenn das Aussehen nicht unseren Erwartungen entspricht, wird es einer Familie, einer Gemeinschaft, einer Behörde schnell unheimlich. Wenn wir erfahren, dass jemand, dem wir vertrauten, in Wahrheit jemand anderes ist, fühlen wir uns verletzt oder bedroht, undwir schämen uns. Unser Wunsch, jemand solle unserer Erwartung entsprechen, ist so groß, dass wir viele Eigenschaften und sichtbare äußere Merkmale verdrängen, wenn sie das Bild stören, das wir uns von jemandem gemacht haben. So war es mit Frédéric/Nicholas. Der aufgetauchte Junge passte einfach zu gut, um unglaubwürdig zu sein. Er befriedigte die Bedürfnisse der Familie und half den Behörden, einen offenen Fall zu lösen. Der soziale Druck war so groß, dass sogar die Mutter den Betrüger zunächst akzeptierte.
    Die Identität eines Menschen ist eine Rolle. Die meisten von uns spielen mit, nicht zuletzt weil die Gesellschaft das von uns erwartet. Es gibt jedoch bestimmte Anlässe, zu denen wir aus der Rolle fallen dürfen, zum Beispiel den Rosenmontag, und bestimmte Orte, zum

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