Anatomien
antwortete der Vater. „Da ich die Gesichter so gut kenne, überraschte mich Ihr Brief sehr. Ich legte das Foto auf den Tisch, damit meine Frau es zufällig entdecken würde. Sie sagte: ,Wann hast du das Bild von A aufgenommen? Sie sieht doch wirklich wie B aus! Oder ist das B? Mir ist noch nie aufgefallen, wie ähnlich sie einander sind.‘“ Diese Antwort war freundlicher als viele andere. Die meisten Empfänger, so schreibt Galton reuig, „hielten das Resultat meiner Arbeit wohl höchstens für eine Spielerei“. Warum man sich für seine Versuche, Gesichter zu verschönern, interessieren sollte, führt Galton nicht weiter aus. Die negativen Reaktionen interpretierte er aber sicher richtig: „Wir alle wollen unsere Individualität bestätigt wissen.“
Vielleicht gibt es bessere Mittel, einen Menschen zu identifizieren, als eine genaue Abbildung. Philip Benson und David Perrett machten, ebenfalls in St. Andrews, Digitalaufnahmen verschiedener Gesichter und verstärkten dann bestimmte charakteristische Gesichtszüge, bis es zu jedem Bild eine Reihe mehr oder weniger extremer Karikaturen gab. Auf die Frage, bei welchem Bild es sich um die genaueste Abbildung handelte, wählten die meisten Befragten nicht das tatsächliche Porträt, sondern eine relativ milde Karikatur aus.
Gesichter können wir meist recht gut identifizieren. Die Psychologen nennen das eine natürliche Aufgabe. Wir erfüllen sie, indem wir Symmetrie und vor allem das auf der Spitze stehende Dreieck aus Augen und Mund erkennen. Die Augen sind wichtig, denn sie drücken Gefühle aus; am Mund versuchen wir, Vergnügen und Ekel abzulesen. Daher bemerken wir nicht, dass die Mona Lisa keine Augenbrauen hat oder dass die Kinder in South Park nasenlos sind. Da wir Gesichter ohnehin so gut erkennen können, führt eine besondere Ausbildung, zum Beispiel von Polizisten, teilweise zuschlechteren Ergebnissen, weil sie unterbewusste Bildverarbeitungsmechanismen aushebelt.
Gesichter wiederzuerkennen und zu identifizieren ist das eine, ein Gesicht aber so zu beschreiben, dass jemand anderes es identifizieren kann, ist eine ganz andere Herausforderung. Wir beschreiben jene Teile des Gesichts, für die wir Worte haben. Wir beginnen mit Augen, Nase, Mund usw. und vielleicht mit der Form des Kopfes an sich (rund, länglich, kantig). Neben den funktionellen Bestandteilen erfasst unsere Alltagssprache auch Merkmale wie Wangenknochen, Kinn und Stirn sowie Augenbrauen und Haaransatz. Je nachdem, wie auffällig sie sind, beschreiben wir auch die Ohren (das schwedische Recht schreibt vor, dass auf einem Passfoto ein Ohr zu sehen sein muss). Aber diese Liste spiegelt nicht angemessen wider, wie wir Gesichter wirklich erkennen. Sie enthält nur die charakteristischen Merkmale, die wir leicht beschreiben können.
Leonardo da Vinci war, wie so oft, der Erste, der ein gezeichnetes Inventar menschlicher Gesichtszüge erstellt hat. Es war dazu gedacht, seine Künstlerkollegen darin zu unterrichten, auf der Basis weniger Eindrücke ein treffendes Porträt zu zeichnen. Vom Mittelalter über das Zeitalter gemalter Porträts bis in die Frühzeit der Fotografie war es jedoch allgemein üblich, einen Menschen anhand von Dingen oder Objekten zu identifizieren, die uns heute gefährlich unzuverlässig erscheinen. Dazu gehörten unterschriebene Papiere oder bestimmte Kleidungsstücke. Holzschnitte gefährlicher Verbrecher aus dem 16.
Jahrhundert sehen vielleicht wie moderne Fahndungsbilder aus, aber sie wurden angefertigt, um die gute Nachricht einer Festnahme zu verkünden. Auf Basis der Erinnerungen von Zeugen ein Abbild zu produzieren, das die Suche nach dem Täter erleichtern sollte, wurde erst sehr viel später üblich.
In den 1960ern suchte die Polizei nach Wegen, Verdächtige zuverlässiger zu identifizieren, und so machte sie es sich zunutze, dass wir Gesichter, um sie beschreiben zu können, in Einzelteile zerlegen . Frühe Systeme wie das amerikanische Identikit mit seineneinfachen Zeichnungen und das britische Photofit ermöglichten es Zeugen, das Bild eines Verdächtigen wie ein Puzzle zusammenzubauen. Die Einzelteile stammten aus einem großen Archiv häufig auftretender Merkmale. Diese Methode versprach, besser zu funktionieren als die Zusammenarbeit mit Porträtzeichnern, aber gute Abbilder entstanden trotzdem meist nicht. Inzwischen finden diese Methoden kaum noch Verwendung, weil sie nicht der Art entsprechen, wie wir Gesichter tatsächlich erkennen .
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