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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Beispiel die Bühne, wo wir nicht mehr der sein müssen, der wir sind. Hier wird sogar erwartet, dass wir jemand anderes „sind“. In Extremfällen führt der Rollenwechsel zur Katastrophe. Bourdin war unfähig, er selbst zu „sein“, er wollte mit aller Gewalt seine Identität wechseln. Er wollte nicht einfach flunkern, sondern wirklich dazugehören und die Rolle mit Leben füllen.
    Das Verblüffende an solchen Geschichten ist oft nicht die mehr oder weniger erfolgreiche Schauspielkunst des Hauptdarstellers, sondern die Reaktion der Umstehenden. Wir wundern uns gern über ihre vermeintliche Leichtgläubigkeit. Wie konnten sie auf so etwas hereinfallen? Die Geschichte verdeutlicht das Bedürfnis, aus Gründen des eigenen Wohlbefindens und des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu glauben, dass jemand tatsächlich der ist, der er zu sein vorgibt. Ein anderes Beispiel ist die berühmte Geschichte von Martin Guerres Rückkehr. Mitte des 16.

Jahrhunderts verließ ein wohlhabender Bauer namens Guerre scheinbar grundlos sein Dorf in den Pyrenäen, seine Frau und sein Kind. Jahre später tauchte ein Mann auf, den die Frau und das ganze Dorf als Guerre willkommen hießen. Ein paar Jahre lang ging alles gut, bis die Frau ihn vor Gericht wegen Betruges anklagte. Die Verhandlung endete damit, dass der Mann, dessen Identität der Rest des Dorfes nicht infrage stellte, freigesprochen wurde, doch dann hatte der wahre Martin Guerreseinen spektakulären Auftritt. Er war plötzlich wieder da, nur fehlte ihm ein Bein, denn er war im Krieg gewesen.
    Psychologisch am interessantesten an der Geschichte ist Guerres Frau Bertrande de Rols. Hatte sie sich wirklich wie viele andere von dem Betrüger täuschen lassen? Oder hatte sie, wie die Kulturhistorikerin Natalie Zemon Davis glaubt, gute Gründe mitzuspielen? Guerres Verschwinden hatte ihre eigene Position geschwächt, und so „zog sie es vor, nicht zu handeln. Ihr materielles Interesse hielt sie bei ihrem Sohn und bei dessen zukünftigem Erbe.“ Plötzlich war da ein glaubwürdiger und vielleicht sogar besserer Mann. „Nach einem Leben als junge Frau, die, wenn überhaupt, nur eine kurze Zeit sexueller Erfüllung gekannt hatte, nach einer Ehe mit einem Mann, den sie kaum verstand, möglicherweise sogar fürchtete, auf jeden Fall verlassen hatte, träumte Bertrande von einem Mann und Liebhaber, der zurückkommen würde und ganz anders wäre.“ Das vermutet jedenfalls Davis, die den Fall rekonstruierte.
    Solche Dramen werfen grundlegende und verwirrende Identitätsfragen auf. Woher wissen wir, dass wir derselbe sind wie vor zehn Minuten oder vor zehn Jahren? Woher wissen unsere Angehörigen und andere das? Guerre ließ an seiner Identität vielleicht Zweifel aufkommen, aber wenn unser Partner abends von der Arbeit heimkommt, vermuten wir nicht, dass er ein anderer als der ist, der morgens aus dem Haus ging. Wie wir das feststellen können, ist eine wichtige Frage. Spielt es eine Rolle, dass alle unsere Körperzellen spätestens nach sieben Jahren ersetzt werden, sodass wir schon rein materiell nicht mehr derselbe sind? Vor allem erkennen wir einander am Gesicht, aber auch an Bewegungen, Gesten und der Stimme. Doch auch das Gesicht verändert sich mit der Zeit. Inwiefern sind wir überhaupt noch derselbe?
    Philosophen haben sich von alters her gefragt, was ein Individuum auszeichnet. John Locke und David Hume postulierten, dass persönliche Identität nicht ohne ein Bewusstsein und die erinnerte Kontinuität des Bewusstseins denkbar sei. Hume zufolge „ist das Prinzip der Individuation nichts anderes als die Unveränderlichkeit und Un unterbrochenheit eines Gegenstandes während des von uns angenommenen Wechsels in der Zeit, vermöge welcher der Geist dem Objekt in den verschiedenen Momenten seiner Existenz nachgehen kann, ohne die Betrachtung zu unterbrechen …“ Der Schlaf stellt keine Unterbrechung dar, weil wir uns an den vorigen Tag erinnern. Aber eine mehrjährige Lücke? Das ist schon etwas anderes.
    In den letzten Jahren haben die Philosophen verstärkt hypothetische Szenarien entwickelt, bei denen die Kontinuität der Identität plötzlich unterbrochen wird. Zum Beispiel sollen wir uns vorstellen, dass Geist und Körper eines Menschen voneinander getrennt werden und auf verschiedenen Wegen durch Raum und Zeit reisen. Doch die verschiedenen Gedankenspiele über Zeitreisen, Teleportation und Körpertausch erbrachten wenig Neues. Wenn der Geist eines Menschen sich im

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