Anatomien

I Documenti d’Amore von 1310, während das erste stilisierte Herz aus einer illustrierten Anatomie des Jahres 1345 stammt. In der Kirche wurde bald das Herz Jesu inniger verehrt als die fünf Wundmale Christi, die als Stigmata des Franz von Assisi wiederkehrten. Das Herz Jesu wurde auch zum Symbol der katholischen Gegenreformation – was nicht immer unproblematisch war. Ende des 19.
 
Jahrhunderts beschuldigten zahlreiche Ruander die katholischen Missionare in ihrem Land des Kannibalismus – das Logo ihrer Mission war wohl etwas zu drastisch.
    Die Amish und die Vertreter der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung schnitzten das simple Herz in Möbelstücke. Heute gehört es zum Marketing für viele Produkte und verspricht entweder, dass das Produkt dem Käufer guttun wird oder dass es sündhaft schön ist. Auf meiner Apple-Tastatur kann ich mir ganz leicht ein Herz einrichten, und es sei hiermit zum ersten Mal getan:
♥
.
    Der New Yorker Designer Milton Glaser benutzte das
♥
als Erster in einem Satz: I
♥
NY. Der 1976 geprägte Slogan ist um vieles erfolgreicher, als sein Erfinder je erwartet hätte. Die unmissverständlich wohlige Umarmung beruhigt den Besucher, der vor dem Chaos der Stadt zuerst einmal zurückschreckt. I
♥
NY ist auch deshalb so genial, weil es unsere Liebe für bestimmte Orte sowie die Vorstellung aufgreift, dass Ort und Gemeinschaft zusammengehören. Der Geschäftssinn spielt freilich ebenfalls eine Rolle. Das Logo ist leicht zu vervielfältigen. Überall in der Stadt sieht man Versionen des „I
♥
NY“-Symbols, und das ist gewollt. Normalerweise sorgt ein Konzern dafür, dass kein Unbefugter das Firmenlogo verwendet. Glasers Logo unterliegt dagegen keiner urheberrechtlichen Beschränkung. Jeder soll es überall in New York verwendendürfen. Ob sich das bezahlt machen würde, war anfangs nicht abzusehen. Der Erfolg spricht auch fast vierzig Jahre später für sich. Es sieht nicht immer gleich aus: Das Herz schwillt nicht immer genau so an wie auf dem Originalbild. Die Schriftart ist meist nicht die von Glaser ausgewählte American Typewriter. Genau dadurch erfüllt es seine Funktion noch besser: Jeder kann sehen, dass die New Yorker keine Nachmacher sind. Ungeahnte multikulturelle Möglichkeiten eröffnen sich jenseits der fünf New Yorker Boroughs. Andere US-Bundesstaaten ahmen das Symbol nach, manche recht unbeholfen: „Virginia
♥
is for lovers“ und „I L
♥
VERMONT“ sind amtliche Kennzeichen. J’
♥
Quebec, Me
♥
Antigua und I
♥
Allah gibt es auch. Sie alle erinnern an New York und verbreiten damit ganz unangestrengt die Botschaft, dass genau diese Vielfalt der Leidenschaften und Bewohner zum Stadtalltag gehört.
    Auch die Niere kann sich sehen lassen. Die Valentinstags-Konfektion muss zwar herzförmig sein, damit jeder versteht, dass es um die Liebe geht. Doch längst werden Nierentransplantationen mit nierenförmigen Torten gefeiert. Manchmal sind sie erschreckend realistisch: Harnleiter und wichtige Blutbahnen werden mit aufeinander abgestimmten Zuckergussfarben hervorgehoben, als wären sie geradewegs aus einem anatomischen Lehrbuch auf die Torte gehüpft. Der neue Brauch hat seine Schattenseiten. Wer herzförmige Geschenke macht, verschenkt symbolisch sein eigenes Herz. Und bei der Niere, die als Wiedergeburtskuchen daherkommt? Nun, der Empfänger nimmt sein neues Organ noch einmal zu sich, indem er ein Stück isst. Aber wie steht es mit den anderen Partygästen, die ebenfalls von der Niere kosten? Das ist schon makaber.
    Wie das Herz haben auch die meisten anderen Organe eine charakteristische Form, die gleichwohl so unregelmäßig ist, dass man sie nicht leicht beschreiben kann. Mit anderen Worten, irgendwie sieht zwar jedes Herz wie ein Herz aus, aber kein Herz gleicht wirklich einem anderen Objekt. Die Niere schon – sie sieht so eigenartig aus, dass sie zum Namensgeber für allerlei Naturprodukte oder vomMenschen gemachte Gegenstände geworden ist, von den „Kidney beans“ bis zum Nierentisch, der wohl einfach organischer aussehen sollte als das übliche Viereck.
    Auch einige pflanzliche Blätter sind nierenförmig – „reniform“, wie der Fachmann sagt. Die Form ist aus einem ganz bestimmten Grund in der Natur so verbreitet (für die Möbelindustrie gelten andere Gesetze). Wie gesehen, hat sich das stilisierte Herz (vielleicht ebenso wie Kreuz, Pik und Karo) aus Abbildungen pflanzlicher Blätter entwickelt. D’Arcy Thompson belegt in seinem