Anatomien
Ärzte dachten, dass das Herz die Körperwärme erzeugt und etwas mit dem Blut zu tun hat, aber es ist erstaunlich, dass die tatsächliche Funktion, nämlich das Blut durch den Körper zu pumpen, so lange im Dunkeln blieb. Leonardo da Vinci kam der Sache beinahe auf die Spur, denn anders als Galen verstand er, dass das Herz aus vier muskulösen Kammern besteht und der Ursprung aller Blutbahnen ist. Wenn er bemerkt hätte, dass einige von ihnen Blut zum Herzen und andere Blut vom Herzen weg transportieren, hätte er sicher eins und eins zusammengezählt und wäre nicht nur als Amateuranatom in die Geschichte eingegangen.
Ich halte ein Herz in der Hand und erkenne sofort, dass es einmal etwas getan haben muss. Anders als ein Lungenflügel oder das Gehirn, die Leber oder die Nieren in ihrer Gleichförmigkeit sieht das Herz recht kompliziert aus. Ich ziehe die dünnen Fettschichten beiseite, die wie Packpapier um ein Porzellangefäß geschlagen sind. Die verschiedenen Kammern (zwei Atrien und zwei Ventrikel) sind an Muskeln aufgehängt. Ohne Blut ist es am unteren Ende fühlbar schwerer. Blutbahnen winden sich wie die Spuren kleiner Würmer über seine Oberfläche. Dieses Herz hier wurde mit einem Schnitt quer durch die Aorta – ein zwei Zentimeter breiter Tunnel – vom Rest des Körpers gelöst. Ich habe gelesen, dass das Herz pro Tag etwa 5000 Liter Blut pumpt und dass es dieses zwei Meter hoch in die Luft schießen kann. Wie dachte man früher nur, dass der Körper in der Lage wäre, so viel Blut zu produzieren, wie dieses Organ benötigt? Die größte Vene, die vena cava, ist am Herzeingang fast genauso groß. Vier andere Blutbahnen, die Lungenvenen und -arterien, die Blut zur Sauerstoffanreicherung in die Lungen und von diesen weg transportieren, besitzen einen Durchmesser von etwa einem Zentimeter. Das sieht alles aus wie der Lageplan einer U-Bahn-Station. Ich weiß nicht recht, wie ich das Herz wieder in die Körperhöhle setzen soll, aus der ich es herausgeholt habe, aber es schlüpft leicht wieder hinein, und die Röhren finden problemlos die richtigen Anschlussstellen. Alles wirkt, als fände ein Tier zurück ins Nest.
Hier und da sehe ich wellige Fleischlappen. Diese Klappen regulieren den Blutfluss. Sie sind verantwortlich für den Doppelschlag des Herzens, das „Da-Dab, Da-Dab“. Wenn Sie diese Silben aussprechen, macht Ihre Zunge das, was die Herzklappen tun. William Harvey hat, anders als Galen und da Vinci, vielleicht auch deshalb den Blutkreislauf entdeckt, weil die Wasserbautechnik im frühen 17.
Jahrhundert Fortschritte gemacht hatte. Unter anderem hatte Pascal die hydraulische Presse erfunden. Womöglich ließen diese Wasserpumpen das Herz für Harvey in neuem Licht erscheinen. Harvey legte die Mechanismen des Herzens und des Blutkreislaufsjedenfalls mit größter wissenschaftlicher Genauigkeit dar, obwohl er selbst nicht ganz verstand, was all diese Aktivität eigentlich sollte. Das wurde erst mit der Entdeckung des Sauerstoffs und der Rolle der roten Blutkörperchen etwa einhundert Jahre später deutlich. Leider hat die Veröffentlichung seines Buches Harvey kein Glück gebracht. Sein Freund und Biograf John Aubrey schrieb, „er ließ in seiner Arbeit sehr nach, und viele einfache Menschen glaubten, er sei nicht ganz richtig im Kopf. Alle Ärzte wandten sich von ihm ab und beneideten ihn, und viele schrieben gegen ihn an.“
Harveys Entdeckung stellte das Herz als Mittelpunkt des Körpers nicht infrage. Es befindet sich zwar eigentlich etwas links vom Zentrum, bildet aber den Mittelpunkt zwischen Kopf und Geschlechtsorgan, den Schaltstellen von Vernunft und Lust. Seine neu entdeckte Bedeutung als Blutpumpe unterstrich seine große Bedeutung. Das verstand Harvey sofort, wie sein überschwänglicher Brief an Charles I. zeigt. Das Herz war ein wichtiges Steuerelement des Körpers und galt daher als mächtiges Symbol für die moralische Selbstregulierung. Wir sprechen mit dem Herzen, wenn wir meinen, was wir sagen. Wir haben etwas Wichtiges auf dem Herzen. Obwohl wir wissen, dass Wahrnehmung und Erkenntnis im Gehirn zusammenlaufen, wollen wir immer noch mit dem Herzen fühlen. In der westlichen Welt verband man das Herz stets mit den Emotionen, in der östlichen dagegen eher mit Intellekt und eigenständiger Erkenntnis. Obwohl sich auch davon Spuren in unserer Kultur finden lassen. „Denn in seinem Herzen ist er berechnend“, warnt das biblische Buch der Sprüche (23:7). Und ein berühmtes
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