Anatomien
hat derweil ein neues Anwendungsgebiet für die Technologie erschlossen. Sie soll den Kunden der Firma helfen, Versicherungsnehmer und Bewerber um eine Arbeitsstelle einzuschätzen. Weil das bildgebende Verfahren der fMRT nicht das autonome Nervensystem, das unsere Körperfunktionen kontrolliert, sondern das zentrale Nervensystem direkt beobachtet, kann ein Unternehmen das in Amerika geltende Verbot der kommerziellen Verwendung von Lügendetektoren umgehen. Geplant ist die Einrichtung von VeraCentres, in denen ein Bewerber während des Gesprächs mit einem potenziellen Arbeitgeber im Scanner liegt. Schöne neue Welt. Die Lobbyarbeit der Firma zielt darauf ab, fMRT-„Beweise“ auch vor Gericht zuzulassen. Selbst unabhängige Organisationen wie die British Psychological Society vermuten, dass ein solcher Schritt nur eine Frage der Zeit ist, befürchten aber, dass die Aura der wissenschaftlichen Autorität die Geschworenen dazu verleiten könnte, den Daten eine größere Glaubwürdigkeit zuzuschreiben, als sie verdienen.
In ihrem Bestreben, Schwindler zu überführen, schießt No Lie MRI wohl übers Ziel hinaus. Wenn wir uns von Neurobiologen aufunser Gehirn reduzieren lassen, wird irgendwann ein Angeklagter vielleicht darauf pochen, dass nicht er, sondern sein Gehirn das Verbrechen begangen habe, und die Daten werden das belegen. Das wäre dann die ultramoderne Version der Unzurechnungsfähigkeit. Müsste man dann den Angeklagten zur Rechenschaft ziehen – oder sein Gehirn?
Herz
Das Herz ist ein leeres, spitz zulaufendes, muskulöses Organ, das zwischen den Lungenflügeln sitzt und vom Herzbeutel umfasst wird.
Das Herz ist pyramidenförmig, oder vielmehr hat es eine gewundene Form, und seine Proportionen entsprechen denen eines Kiefernzapfens.
Das Herz eines Geschöpfs ist die Grundlage des Lebens, der allgewaltige Fürst, die Sonne des Mikrokosmos, auf die alles Lebendige angewiesen ist und aus der alle Kraft und Stärke entspringen.
Das Herz ist wie ein Messgewand.
Das Herz ist wie ein fleischiges Furzkissen.
Das Herz führt alle hinters Licht und ist vor allem ein Betrüger.
Das Herz hat seine Gründe jenseits aller Begründungen.
Das Herz ist unersättlich und rastlos. Es wird immer für sich sorgen. Wenn es an Gott nichts hat, besorgt es sich etwas bei den Geschöpfen, und dort geht es oft in die Irre.
Das Herz ist ewig unerfahren.
Das Herz ist ein einsamer Jäger.
Unter dem Herzen stellt sich jeder etwas anderes vor, wie diese Zitate beweisen. Die ersten drei stammen von Anatomen, nämlich aus Henry Grays Anatomie, Helkiah Crookes Microcosmographia und William Harveys De motu cordis. Die nächste über das Herz als Messgewand stammt aus François Rabelais’ Pantagruel. Rabelais war nicht nur Mönch, Jurist und Autor, sondern auch Anatom. Wenn man dem Gedicht seines Zeitgenossen Étienne Dolet glauben darf, sprach 1538 in Lyon eine Leiche Rabelais an. Der Toteglaubte offenbar, den Richtern ein Schnippchen geschlagen zu haben, die das Todesurteil mit dem erschwerenden Zusatz verbunden hatten, er solle seziert werden. Als er nämlich erfuhr, dass der große Rabelais die Sektion durchführen würde, sagte er: „Das Glück ist wahrlich übergroß, so wird es mir zuteil!“ Der nächste, vielleicht etwas lehrreichere Vergleich stammt aus Louisa Youngs Buch des Herzens. Die Quellen der übrigen sind das alttestamentarische Buch Jesaja; der französische Philosoph Blaise Pascal; sein Zeitgenosse, der englische Geistliche John Flavel; und die amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau und Carson McCullers.
Dass das Herz den Kern unseres Wesens verkörpert, glaubte man wohl sogar schon vor Aristoteles. Young zufolge belegen über 3000 Jahre alte ägyptische und griechische Quellen, dass das Herz als Sitz von „Identität, Leben, Fruchtbarkeit, Treue und Liebe“ galt. Aber viele Jahrhunderte lang wusste man nicht, ob das auch physiologisch stimmte. 1300 Jahre lang war es zumindest in symbolischer Hinsicht unbestritten, seit nämlich Galen im 2.
Jahrhundert n. Chr. Leber, Herz und Gehirn zu Herrschern des dreiteiligen Körpers (Unterleib, Brustkorb, Kopf) ausrief, wobei natürlich das Herz im Mittelpunkt stand.
Im Unterschied zu den anderen inneren Organen ist leicht zu erkennen, dass es etwas tut: Es schlägt, und seine Schlagfrequenz hängt von äußeren Ereignissen ab. Wenn wir an die Geliebte denken oder in Gefahr sind, schlägt es schneller – wenn der Tod naht, langsamer. Die antiken
Weitere Kostenlose Bücher