Anatomien
Gebet aus dem Jahre 1514 lautet:
Gott wohne in meinem Kopf
Und in meinem Verstand.
Gott wohne in meinen Augen
Und in meinem Blick.
Gott wohne in meinem Mund
Und in meinen Worten.
Gott wohne in meinem Herzen
Und in meinen Gedanken.
Gott wohne in meinem Ende
Und in meinem Abschied.
Damals verband man das Herz also mit dem Denken, Kopf oder Gehirn dagegen mit dem Verstand. Ausgerechnet Harveys einhundert Jahre später gemachte wissenschaftliche Entdeckung – dass das Herz zwar eine majestätisch bedeutsame Pumpe ist, aber letztlich doch nur eine Pumpe – ließ im allgemeinen Bewusstsein das Gehirn nun wichtiger erscheinen. Die Kulturhistorikerin Fay Bound Alberti nennt das den „wissenschaftlichen Übergang vom kardiozentrischen zum kraniozentrischen Körper“.
1997 vertrat der kanadische Kardiologe Andrew Armour in einem Aufsatz die erstaunliche These, das Herz besitze so etwas wie „sein eigenes, kleines Gehirn“. Neuronale Netze am Herzen leisteten eine Art „Informationsverarbeitung vor Ort“. Das Herz gleiche also weniger einer Pumpe oder einem anderen mechanischen Gerät als vielmehr einem Computer. Das Gehirn, so lautet die modische Analogie, sei unser Zentralrechner, während das Herz und vielleicht auch andere Organe lokale Prozessoren besäßen. Während viele den Aufsatz als Pseudowissenschaft abtaten, sahen einige Kirchenvertreter und Theosophen ihn als Beleg für die biblische Vorstellung vom denkenden Herzen.
Wie dem auch sei, das Herz liegt uns am Herzen. Herzensmetaphern wirken besonders realistisch. Am gebrochenen Herzen zu sterben, ist eine der schrecklichsten Todesarten, obwohl das glitschige, elastische Organ im körperlichen Sinne gar nicht auseinanderbrechen kann. Es kann schwächer oder krank werden oder sich zurückbilden, aber es wird sicher nie so auseinanderbrechen wie auf dem Bild des vom Blitz zerteilten Herzens. Weil es so kompakt ist, taugt das Herz als Emblem. Das Herz von Heiligen oder Märtyrern wurde oft nicht mit dem Rest des Körpers begraben – teils aus praktischen Gründen (Eingeweide und andere Organe wurden zuerstbegraben, damit es in der Kirche nicht so stank), teils aus symbolischen. Young zufolge kann das Herz „eingelegt, verschickt, übergeben, aufbewahrt, verspeist oder um den Hals getragen“ werden. Man durfte es sogar dann aus fernen Kriegen in die Heimat überführen, wenn der Rest des Körpers aus Angst vor Epidemien in der Fremde bleiben musste.
Überraschend ist, dass wir trotz der vielen symbolischen Bedeutungen des Herzens anscheinend nicht so recht wissen wollen, wie es wirklich aussieht. Was da in unserem Körper schlägt, bleibt in unserem Leben so unsichtbar, dass wir seine Form kaum kennen. Das gilt für das menschliche ebenso wie das tierische Herz, das in unserer Küche keine große Rolle spielt, sondern mit den Innereien am Rande steht. Zugleich wird das Herzsymbol immer einheitlicher. Auf Zeichnungen aus dem 17.
Jahrhundert sehen wir etwas Dreidimensionales, das anatomisch nicht ganz korrekt sein mag, aber den unregelmäßigen Bau des tatsächlichen Herzens ganz gut wiedergibt. Erst im Laufe des 18. und des 19.
Jahrhunderts wurde das Herz auf Spielkarten, Holzschnitten und Stickereien sowie schließlich auf Valentinskarten zu der flachen und symmetrischen Figur, wie wir sie heute kennen.
Wie wurde das Herz zu einer so stilisierten und unrealistischen, zweidimensionalen Angelegenheit – zum roten, zweiflügeligen, auf dem Kopf stehenden Dreieck? Dafür könnte es viele Gründe geben. In den altägyptischen Hieroglyphen wurde das Herz durch eine Vase dargestellt, auch erinnert es an eine verschnörkelte griechische Leier. Oder handelt es sich um eine Abwandlung des Dreiecks, des weiblichen Geschlechtssymbols? Die Modedesignerin Mary Quant zelebrierte die Symbolik und bat ihren Mann, ihr die Schamhaare in dieser Form zu rasieren. Was wir heute als Herzsymbol verwenden, stellte wohl früher den Efeu oder ein Bündel Weintrauben dar. Das Symbol auf Spielkarten, das wir heute Herz nennen, ist eigentlich Efeu.
In der Kunst und Literatur des Mittelalters ist das Herz oft birnen- oder pfirsichförmig. Die von Giotto auf einem Fresko in der Scrovegni-Kapelle dargestellte Mildtätigkeit bietet uns aus einer Obstschale ein tränenförmiges Herz an. Aber irgendwann ist das flache Efeublatt zur bevorzugten Darstellung des menschlichen Herzens geworden. Das erste Herz mit Spalt befindet sich wohl in Francesco da Barberinos Emblembuch
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