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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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weitere) normalerweise getrennt voneinander betrachten, obwohl wir sie gemeinsam benutzen. Das hat einige wirklich verwirrende, manchmal auch bedrückende Konsequenzen. Der Mitarbeiter einer Personalabteilung werde einen Bewerber beispielsweise als qualifizierter einschätzen, wenn die Bewerbungsmappe schwerer ist. Das Gewicht der Unterlagen habe mehr Einfluss als das, was der Mitarbeiter sehe oder höre. Quantität geht vor Qualität, das sei nicht nur ein Verkaufsargument, sondern offenbar eine noch viel fundamentalere Grundregel.
    Die unbewusste Vermischung von Sinneseindrücken führt uns leicht in die Irre und macht uns manipulierbar. Spence’ Arbeit kommt den Herstellern von Produkten zugute, die multisensorische Erfahrungen berücksichtigen wollen, zum Beispiel die Tatsache, dass das Knuspergeräusch beim Zubeißen oder sogar das Rascheln einer Packung unseren Geschmackseindruck beeinflusst. „Uns interessiert die Frage, wie die Sinne sowohl innerhalb einereinzigen Zelle als auch im Gehirn als Ganzem zusammenwirken. Kann man zum Beispiel Gewicht schmecken? Hat das Eau de Toilette, das jemand trägt, einen Einfluss darauf, für wie alt wir ihn halten?“
    Unser Sehsinn ist leicht zu täuschen, vielleicht gerade weil unser Gehirn ihn so sehr bevorzugt. Berühmt ist der sogenannte Gummihand-Versuch. Die Hand eines Probanden wird außerhalb seines Sichtfeldes positioniert, dann legt man eine künstliche Hand oder einfach einen Gummihandschuh dorthin, wo der Proband seine Hand sonst platziert hätte. Der Versuchsleiter streichelt dann sowohl die unsichtbare echte als auch die falsche Hand. Nach einer gewissen Zeit hält der Proband die künstliche Hand für seine eigene. Eine gruselige Erweiterung des Experiments besteht darin, dass der Versuchsleiter mit einem Hammer auf die künstliche Hand eindrischt. Der Proband wird zusammenzucken. Das Gehirn gibt visuellen Eindrücken den Vorzug gegenüber den körpereigenen Signalen, die mit der Propriozeption, der Eigenwahrnehmung im Raum, zu tun haben. Die künstliche Hand muss der echten allerdings einigermaßen ähnlich sehen. Ein rechter Handschuh kann eine linke Hand nicht ersetzen. Ein grellgelber Gummihandschuh reicht aus, folglich spielt wenigstens hier einmal die Hautfarbe keine Rolle.
    Der Psychologe Richard Gregory illustriert einen ähnlichen Mechanismus noch eindrücklicher, und zwar am Beispiel eines Mannes, der von Geburt an blind war, bis ihm durch eine Operation das Augenlicht geschenkt wurde. Gregory ging mit dem Mann an einige besonders spannende Orte in London, in den Zoo und einige Museen. Im Science Museum zeigte er ihm eine Drehbank, weil sich der Mann für Maschinen interessierte. In der Vitrine erkannte er den Gegenstand nicht. Erst als er die Drehbank berührte, verstand er, worum es sich handelte. Gregory berichtet: „Er drehte sich dann zu mir um und sagte: Jetzt wo ich es berührt habe, kann ich es sehen.“ Das erklärt, warum der Mann auf der Fahrt durch London mit allem, was außerhalb der Autofenster vor sich ging, überhauptnichts anfangen konnte. Dass er im Endeffekt weiterhin so lange für etwas blind war, bis er es berührte, bezeugt, dass der Tastsinn die mit dem Sehsinn verbundenen Nervenstränge übernommen hatte und dass das Gehirn sich erst langsam auf die neue Situation einstellte.
    Wenn wir verstehen, wie unsere Sinne im Gehirn zusammenwirken, können wir mit dem Verlust einzelner Sinne besser umgehen. Ein Spiegel kann Amputationspatienten, die „Phantomschmerzen“ im amputierten Körperteil empfinden, und halbseitig beeinträchtigten Schlaganfallpatienten während der Therapie helfen, denn er ermöglicht es ihnen, ihre Propriozeption mit dem zu vergleichen, was sie im Spiegel sehen. Ein Sinn kann einen anderen sogar dauerhaft verdrängen. Blinde, die einen normalerweise für das Sehen zuständigen Gehirnteil dazu nutzen, Blindenschrift zu lesen, werden bemerken, dass die Wahrnehmungsfähigkeit ihrer Fingerspitzen zunimmt und ihnen eine leichtere Orientierung im Raum ermöglicht. 1969 entwickelte Paul Bach-y-Rita an der University of Wisconsin in Madison auf dieser Basis prosthetische „Augen“ aus einer Art vibrierendem Stecknadelköpfchen, die wie Pixel ein Bild ergaben, das von einer Kamera eingefangen wurde. Die Probanden spürten also das Bild, das die Kamera aufzeichnete. Das BrainPort genannte Gerät wollte er seinen Patienten ursprünglich in Form einer Weste als berührungsempfindliche Projektionsfläche auf den

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