Anatomien
des Melatonins verantwortlich ist, also jenes Hormons, das uns schläfrig macht. Die Drüse ist lichtempfindlich, und Melatonin wird freigesetzt, wenn es dunkel wird. Mit der visuellen Wahrnehmung hat sie nichts zu tun.
Descartes’ Bild des Auges war fehlerhaft und unvollständig. Es gab zum Beispiel keine Auskunft darüber, wie wir dadurch, dass wir zwei Augen haben, Größenverhältnisse einschätzen können. Trotzdem war es revolutionär, denn es erschloss dem mechanistischen Körperverständnis den Gesichtssinn, jenen geheimnisvollsten, mystischsten unserer Sinne, der nicht nur mit dem Sehen, sondern auch mit Visionen zu tun hat. Tastsinn, Geschmack und Geruch sind darauf angewiesen, dass wir unmittelbaren, körperlichen Kontakt mit dem Wahrzunehmenden haben. Selbst beim Hören können wir uns vorstellen, dass etwas aus der Ferne auf uns zukommt, dass Geräusche oder Klänge eine Zeit lang auf dem Weg zu uns sind. Nun konnte man das Sehen genauso auffassen.
Da ich noch Schweineaugen übrig habe, beschließe ich, mein Experiment abzurunden und einen Querschnitt zu versuchen. Wenn mir der kühne Schnitt durch den Äquator des Auges gelänge, hätte ich genau das vor mir, was man laut Descartes nicht sehen kann. Meine Aufgabe erfüllt mich mit Schrecken. Plötzlich erinnere ich mich an Luis Buñuels Bild eines Mannes, der das Auge einer Frau mit einer Rasierklinge zerschneidet, dabei habe ich diesen surrealistischen Film gar nicht gesehen. (Später schaue ich mir den Film an und erkenne sofort, dass Buñuel ein Kalbsauge verwendete.) In der Sekunde, bevor ich das Skalpell ansetze, wird mir klar, warum Organspender eher ihr Herz als ihre Augen hergeben wollen.
Aber mit dem Schnitt ändert sich auch meine Wahrnehmung. Die Klinge ist nicht scharf genug, und unwillkürlich zerdrücke ich das Auge, sodass sein Inhalt herausfließt. Der Schrecken lässt nach, und die Faszination setzt ein. Obwohl sie sich nicht mehr an ihrem angestammten Ort befinden, erkenne ich deutlich drei verschiedene durchsichtige Flüssigkeiten: eine geringe Menge wässriger Flüssigkeit, eine etwas größere Menge einer Substanz, die an noch nicht ganz fest gewordenen Gelee erinnert, und dazwischen ein durchsichtiges, erbsengroßes Kügelchen. Es ist weich, bleibt aber in Form. Auf der einen Seite ist es etwas flacher als auf der anderen. Die drei Substanzen sind das Kammerwasser, das Glaskörperchen und die Linse, deren verschiedene Brechungsindizes es uns ermöglichen, unser Auge auf die Außenwelt einzustellen. Das tierische Organ entpuppt sich als cartesianischer Mechanismus. Aus der anatomischen Untersuchung ist ein physikalisches Experiment geworden.
Die Augen sind ein wichtiger Bestandteil unserer Identität. Sie gelten als Fenster zur Seele. In Geschichten von Werwölfen besitzt sogar die verwandelte Gestalt noch dieselben Augen. Was an ihnen drückt Individualität aus? Ihr wichtigstes Kennzeichen ist die Farbe. Die Augenfarbe war eines der Merkmale in Alphonse Bertillons für die Pariser Polizei entwickelten Identifikationssystem, und die Angabe der Augenfarbe ergänzt seitdem in standardisierten Identitätsnachweisen das Passbild. Auch der Irisscan als Identifikationsmethode schien die allgemein verbreitete Ansicht, dass die Augenfarbe wichtig sei, technologisch zu untermauern.
Allerdings nur scheinbar, denn die Augenfarbe wird gar nicht gescannt. Die Scanner untersuchen die Iris mit Infrarotlicht auf einzigartige Muster. Obwohl die Iris ihren Namen vom griechischen Wort für den Regenbogen ableitet, besitzt das Auge selbst gar keineeigene Farbe. Die Farben, die wir wahrnehmen, werden nicht durch Farbpigmente erzeugt. Vielmehr handelt es sich um sogenannte Strukturfarben. Der Eindruck von Farbe entsteht durch Interferenzen von Lichtwellen, wie wir sie auch von Schmetterlingsflügeln und schillernden Vogelfedern her kennen. Alle Augen enthalten eine bestimmte Menge des Pigments Melanin (auch in den vor mir liegenden Schweineaugen schwammen dunkle Melanin-Ansammlungen). Unterschiedliche Mengen des Pigments in Kombination mit dem Interferenzeffekt erzeugen die gesamte Bandbreite unserer Augenfarben. Mit absteigendem Melaninniveau erscheinen die Augen dunkel- oder hellbraun, haselnussbraun, grün, grau und blau.
Francis Galton wollte wissen, ob die Augenfarbe vererblich ist. Er zimmerte sich ein tragbares Kästchen mit sechzehn nummerierten Glasaugen in verschiedenen Farben zurecht. Die Augen ließ er in eine Metallmulde ein, die so
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