Anatomien
Bauch schnallen. Spätere Versionen waren für die noch berührungsempfindlichere Zunge bestimmt. Bach-y-Rita fand Wege, auch andere Sinne wiederherzustellen. Zum Beispiel gab er Patienten so etwas wie einen Gleichgewichtssinn wieder, die sich an der für das Gleichgewicht zuständigen Stelle des Ohres verletzt hatten. Nachdem sie den BrainPort eine Zeit lang benutzt hatten, entwickelten einige Patienten sogar eine Art „Gleichgewichtsgedächtnis“, das noch funktionierte, wenn sie das Gerät schon abgenommen hatten. Den richtigen Umgang mit solchen Geräten lernt ein Patient durch große, bewusste Anstrengungen, aber wenn er sich damit vertraut gemacht hat, passen sich die Nervenbahnen so an, dass der Ersatzsinn nach und nach so erlebt wird wie zuvor der nunmehr ersetzte Sinn.
Menschen sind vielsinnige Wesen. Wir können gleichzeitig sehen und hören, wir benutzen gleichzeitig unseren Geruchs- und unseren Geschmackssinn. Kombinierte Sinneseindrücke sind mehr als die Summe der Einzeleindrücke, und sie sind dauerhafter. Ich würde mich sicher nicht an den „Einzug der Götter in Walhalla“ aus Richard Wagners Rheingold erinnern, wenn ich nicht gerade mit dem Auto über die Severnbrücke gefahren wäre, als ich das Stück hörte. Erst als er die Madeleine riecht und schmeckt, kehren Marcel Prousts Erinnerungen an die verlorene Zeit wieder – der Anblick des Gebäcks reicht nicht aus. Umgekehrt gilt das Gleiche: Wenn wir einen Sinn verlieren, verkümmert ein überproportional großer Anteil unser Wahrnehmungsfähigkeit. Wenn wir nicht mehr riechen können, schmeckt uns auch das Essen nicht mehr, denn vieles von dem, was wir als Geschmack auffassen, ist in Wirklichkeit ein Geruch. Charles Spence’ Experimente bewiesen, wie wichtig es ist, dass ein Warnsignal im Auto gleichzeitig sichtbar und hörbar ist, also zum Beispiel blinkt und piept. Das Gehirn wird das Signal dann sehr viel eher wahrnehmen als ein eindimensionales Signal.
Ich frage Spence nach der Synästhesie, denn mich hat schon immer interessiert, wie ein Sinneseindruck mit einem anderen Sinn verknüpft werden kann. Ein Synästhet nimmt zum Beispiel einen Ton als Farbe wahr oder eine Form als Geschmack. Einige meiner Lieblingskomponisten und -maler waren wohl Synästheten: Kandinsky, Hockney, Messiaen, Sibelius und Marinetti, dessen Manifest der futuristischen Küche unter anderem die Aufforderung enthält, man solle ein bestimmtes Gericht mit der einen Hand essen, während man mit der anderen über Seide oder Schmirgelpapier fährt, und ein anderes Gericht in einem Flugsimulator, um durch die Vibration die Geschmackszellen anzuregen. Überzeugender ist die Darstellung des Schriftstellers Wladimir Nabokov, der in seiner Autobiografie Erinnerung, sprich auflistet, welche Farben er mit welchen Buchstaben verbindet. Für Nabokov behielt jeder Buchstabeseine Farbe, wenn er mit anderen ein Wort bildet, außer er war Teil eines Diphthongs, der in einer anderen Sprache durch einen einzigen Buchstaben ausgedrückt wird, wie in seiner Muttersprache Russisch sch und tsch. Die Farbe des russischen Buchstabens „verschmutze“ dann die englischen Buchstaben, die das entsprechende Phonem bilden.
Synästhesie wurde im späten 19.
Jahrhundert zum ersten Mal wissenschaftlich untersucht, zu einer Zeit, da Wagners „Gesamtkunstwerk“ und der späte Impressionismus sowie Absinth und Opium zahlreiche neue, multisensorische Eindrücke hervorriefen. Weil die Synästhesie bei jedem Betroffenen so anders ausgeprägt ist, fanden die Forscher kaum etwas heraus. Heute führt die Neurobiologie die Untersuchungen weiter, um festzustellen, wie das Gehirn die verschiedenen Sinne miteinander in Einklang bringt.
Was ist Synästhesie? Veranlagung oder Täuschung, Vorteil oder Fluch? Das wichtigste psychiatrische Handbuch erwähnt sie nicht. Sie ist wahrscheinlich weniger eine Nervenkrankheit als eine neurologische Eigenschaft, weniger eine Veranlagung als so etwas wie die Superkraft eines Comic-Helden. Sie spielt manchen übel mit: „Manche Synästheten können kein Buch lesen, weil so viele Eindrücke auf sie einstürmen“, erklärt Spence. Einige genießen es aber und haben auch ein besseres Gedächtnis. „Kein Synästhet würde sich je deswegen medikamentieren lassen.“ Synästheten wirken wie Mitglieder eines exklusiven Kunstvereins. Viele wären für ihr Leben gern Mitglied. Demonstrative Ästheten wie Rimbaud und Baudelaire schrieben sich in ihren Werken mehr oder
Weitere Kostenlose Bücher